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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

lang nett miteinander, wobei sich Ailanth als ruhige, aber sehr charmante Gesprächspartnerin erwies.<br />

Dann sagte mir die magere Frau mit dem silberblonden Haar und dem milchig-weißen Teint offen und<br />

unvermittelt ins Gesicht. „Ihr habt Alpträume, Denim Atakuela, die Euch den Schlaf stehlen.“<br />

Ich war bereits dabei, ihr ein Lob für ihr hellseherisches Talent auszusprechen, als Ailanth mich<br />

lächelnd unterbrach: „In erster Linie bin ich eine Gelehrte. Um Euer Problem zu erkennen, Denim,<br />

bedarf es keiner Wahrsicht. Die dunklen Ringe unter Euren roten Augen und Eure fahrigen<br />

Bewegungen sind auch von einem aufmerksam beobachtenden Laien zu interpretieren.“<br />

Ich war ehrlich beeindruckt von Ailanth, die sowohl als gelehrte Frau, als auch als Wahrsagerin und<br />

Astrologin einen guten Ruf in der Oberstadt genoß. Sie deutete mir die Sterne und legte mir die<br />

Karten, hernach schwieg sie lange und nachdenklich.<br />

„Ihr steht unter einem negativen Einfluß, Denim Atakuela,“ erklärte sie mir schließlich. Ihre Stimme<br />

klang sehr ernst und von Mitgefühl bewegt. „dessen Ursprung ich aber nicht genau ausloten kann.<br />

Eine schwarze Wolke verdunkelt Eure Zukunft. Ich lese eine Vielzahl dunkler Omen, verfaßt in einer<br />

Symbolik, in der ich nicht bewandert bin. Aber Eure Alpträume sind erst der Anfang.“ Offensichtlich<br />

ratlos drehte sie mehrere Karten in ihrer Hand. „Da gibt es den „Märtyrer“, die „Schwertdame“, die<br />

„Stimmen“ und den „Puppenmeister“. Ich weiß nicht, wie ich die einzelnen Positionen einordnen soll,<br />

denn sie werden erst zu einem Zeitpunkt offenbar, da ein... Schatten alles, was dahinter liegt, in<br />

Finsternis hüllt.“ Verwirrt und mit einem sichtlichen Gefühl des Unbehagens hielt Ailanth inne. „Ich<br />

vermag Euch nur die möglichen Bedeutungen der Karten zu enthüllen, sie wirklich interpretieren kann<br />

ich nicht.“<br />

Und so erfuhr ich Folgendes: Der „Märtyrer“ steht für ein willentlich gebrachtes Opfer, für völlige<br />

Selbstaufgabe. Die „Schwertdame“ steht für Stärke und Entschlossenheit, aber auch für Verbohrtheit,<br />

Fanatismus, eine einseitige Weltsicht. Einerseits verkörpert sie Erfolg, andererseits Blindheit und<br />

Irrtum. Sieg und Versagen liegen in dieser Karte dicht beeinander, und was sie konkret bedeutet,<br />

hängt von den Karten ab, mit denen sie korrespondiert. Die „Stimmen“ stehen für Ratgeber, für die<br />

Wahlmöglichkeit, für die Gabelung im Weg. Aber auch hier hängt es von der Gesamtkonstellation ab,<br />

ob sie zum Guten oder zum Schlechten hin weisen. Der „Puppenmeister“ schließlich steht für den<br />

überlegten Geist, den Intellekt, der sich mit Geschick und Manipulation alle anderen Karten untertan<br />

macht. Er ist die mächtigste Karte im Spiel.<br />

Ich kann nicht behaupten, daß ich jetzt sehr viel mehr weiß als zuvor, außer, daß ich einer ungewissen<br />

und sehr beunruhigenden Zukunft entgegengehe. Die Karten lassen soviel<br />

Interpretationsmöglichkeiten offen, daß es sinnlos ist, überhaupt damit anzufangen. Sie können alles<br />

bedeuten.<br />

Als ich die Wahrsagerin bezahlen wollte, schüttelte Ailanth den Kopf. „Wo ich nicht helfen kann,<br />

verlange ich auch keine Bezahlung.“ Sie reichte mir eine kleine Dose mit einem durchsichtigen,<br />

kristallinen Pulver. „Damit werdet Ihr wenigstens wieder schlafen können. Tief und traumlos.“<br />

Deprimiert kehrte ich nach Hause zurück.<br />

25. Oberring<br />

Meine Träume haben aufgehört. Durch das Pulver, das Ailanth mir gab, schlafe ich wie ein Stein.<br />

Aber ich habe den Eindruck, als würde meine innere Unruhe sich nun auf die Stunden meines<br />

Wachseins verlagern. Genau betrachtet, habe ich wenig gewonnen. Ich bin gereizt und unleidlich.<br />

Man beginnt, mir aus dem Weg zu gehen.<br />

27. Oberring<br />

Dimitri erhält immer noch Besuch von der Dirne, ohne daß es einen kümmern würde, allenfalls, daß<br />

sie ihn beneiden. Manchmal sitzt sie auch abends mit bei Tische, plaudert auf ihre anzügliche Weise<br />

mit den Hausbewohnern, flirtet und schäkert. Ob sie neue Kunden gewinnen möchte? Wird am Ende<br />

das gesamte „Lindenblatt“ mit ihr ins Bett gehen? Mistress Yatzikenia schweigt. Sie scheint die<br />

Metamorphose ihrer Pension zu einem Bordell stillschweigend zu akzeptieren. Meine Achtung vor ihr<br />

hat erheblich nachgelassen. Befremdlicherweise wirkt der Messerverkäufer aufgetaut, manchmal fast<br />

aufgedreht, obschon man ihn nie einen Tropfen Alkohol anrühren sieht. Seine Gesprächsthemen sind<br />

einseitig, zugegeben. Er führt allen Pensionsgästen seine Messer vor, egal, ob sie daran interessiert<br />

sind oder nicht. Er schwärmt von ihrer Schärfe, demonstriert sie auch, indem er damit Haare und<br />

Papier zerschneidet (wo bekommmt er so scharfe Klingen her?), preist die Qualität des Stahls und die<br />

Verarbeitung an. Eine neue Verkaufstaktik? Aber eigentlich scheint er seine Messer gar nicht

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