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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

ihm durch die Augen das Gehirn aus dem Kopf gesaugt. Als ich ihn zurück in den Staub der Straße<br />

sinken ließ, schlug sein Hinterkopf hart auf den Stein und zerbrach wie eine Eierschale.<br />

Ich wirbelte blitzschnell herum, weil ich einen beobachtenden Blick auf meinem Rücken spürte, und<br />

konnte gerade noch erkennen, wie sich etwas tiefer in die Schatten eines Hauseingangs zurückzog.<br />

Doch als ich den Eingang erreichte, war er leer.<br />

Ich lasse mich einfach treiben. Dann und wann ist da Nebel oder Rauch, der an mir vorbeiweht,<br />

manchmal erahne ich ein Gesicht inmitten des nebligen Dunstes. Aber niemand spricht zu mir,<br />

niemand antwortet, nicht einmal die dunklen Geisterfrauen, die immer noch da sind, die mich stets<br />

begleiten. Ich habe den Eindruck, daß sie mich traurig anschauen.<br />

Ich habe weitere Toten gefunden. Warum bin ich noch am Leben? Wollen sie mich bis zuletzt<br />

aufsparen?<br />

Immerwährende Nacht.<br />

Endlich! Ich bin nicht mehr allein. Während ich planlos durch die ausgestorbenen Straßen irrte, hörte<br />

ich plötzlich das Weinen eines Säuglings. Sogleich verhielt ich meinen Schritt und horchte<br />

angespannt in die Nacht. Die Schreie erschollen aus einem Haus ganz in der Nähe. Die Tür stand<br />

offen, und ich stieg die Treppen hoch und fand das Kind in einer Wiege liegen. Von seinen Eltern<br />

oder anderen Bewohnern des Hauses fehlte jede Spur. Ich nahm das Kind mit mir, trage es in meinen<br />

Mantel gewickelt auf meinem Arm. Ich bin nicht mehr allein.<br />

Später.<br />

Das wird meine letzte Tagebucheintragung sein, denn mein Papier geht zur Neige. Das Büchlein ist<br />

voll, und mir bleibt nur noch, abschließende Worte hineinzuschreiben. Es ist immer noch Nacht,<br />

immer noch irre ich durch die Finsternis, den schreienden und hungrigen Säugling auf meinem Arm.<br />

Ich habe nichts, womit ich das Kind füttern könnte, wahrscheinlich wird es bald verhungert sein, und<br />

dann bin ich wieder allein. Es macht ohnehin kaum einen Unterschied. Leere Straßen, leere Häuser.<br />

Augen, die mich beobachten, ohne, daß ich sie sehen kann. Ein Flüstern und Murmeln um mich, und<br />

die stummen Gespensterdamen als meine düsteren Begleiterinnen. Verloren treibe ich durch die<br />

Nacht.<br />

Mit zittriger Schrift an den Rand der letzten Seite gekritzelt, teilweise zwischen die Zeilen der letzten<br />

Eintragung gerutscht<br />

Da ist jemand, vor mir in der Nacht. Ist es Yssa? Oder Yesil? Ich kann mich nicht an das Gesicht<br />

erinnern. Aber ich weiß, sie ist meine Feindin, sie ist an allem schuld. Ich muß sie töten. Behutsam<br />

bette ich den inzwischen verstummten Säugling auf meinen Mantel. Er schreit schon lange nicht<br />

mehr. Ist er tot? Vielleicht. Dann zücke ich den Rapier und den linkshändigen Parierdolch. In einer<br />

spiegelnden Pfütze sehe ich das Bildnis einer Frau, bin ich das? Die violetten Haare wirr im blassen<br />

und abgemagerten Gesicht, ein funkelnder Glanz in den Augen, barfuß, das schwarze Kleid zerrissen<br />

und blutbefleckt. Ich bin bereit. Jetzt wird alles enden.

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