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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

auch mächtig. Seinem eigenen Wesen lag viel an dem Ort, wo jetzt die alten Schächte und Gänge<br />

lagen.<br />

Davon ahnten die junge Frau und der alte Mann nichts, als sie sich ihre Fackeln anzündeten und<br />

durch die dunkle Öffnung im Stein traten.<br />

„Es ist besser, Ihr gebt mir den Ring, Schmiedin.“<br />

„Warum sollte ich? Es ist mein Ring.“<br />

„Und ihr sollt ihn zurückerhalten. Aber da drin ist es vielleicht zu gefährlich für Euch -<br />

vielleicht wäre es klüger, Ihr bliebet glcih hier draußen.“<br />

Lyr schnaubte. „Auf keinen Fall, alter Mann! Den Ring werde ich dir geben - nur für den Augenblick.<br />

Aber hinterher-“<br />

„-hinterher bekommt Ihr ihn natürlich zurück.“ Er seufzte. „Wie ich es Euch versprochen habe.“<br />

���<br />

Kommt nur, dachte der Einzelne. Hier warte ich auf euch im Zentrum einer Macht, deren<br />

Reichweite ihr gar nicht abschätzen könnt. Ich warte still und leise, bis ihr mir den Ring gebracht<br />

habt. Und dann werdet ihr das größte und das letzte Wunder eures Lebens sehen.<br />

���<br />

Der dunkle Gang war lang und feucht, ganz so wie die Geheimgänge in den Geschichten,<br />

die Lyr früher von ihrer Großmutter gehört hatte. Auch das vereinzelte Geräusch von<br />

fallenden Wassertropfen fehlte nicht.<br />

Manyr blieb kurz schnaufend stehen. Es ging bergauf, und er war solche Gebirgswanderungen nicht<br />

mehr gewohnt. Während er sich auf seinen Stab stützte, versuchte er die Kraft seiner Jugend wieder<br />

heraufzubeschwören, mit der er damals wie eine Gemse durch die Schluchten und Berge rings um<br />

die Akademia geklettert war. Zu lange her; er war alt geworden.<br />

���<br />

Kommt nur. Kommt schneller. Ich warte schon. Der Einzelne erhob sich aus seinem Schneidersitz,<br />

das lange feuerrote Gewand fiel in Falten um ihn, der geringe Schein der vier Kerzen zitterte<br />

zwischen seinen Füßen. Langsam breitete er die Arme aus, streckte beide Hände weit von sich wie<br />

zum Gebet.<br />

Die Berge von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> waren alt und voller Leben. Leben war eine Sache der Geduld; schon<br />

vor Urzeiten hatte der Berg ein eigenes Ich entwickelt, eine eigene Seele. Und nicht nur einmal; oft<br />

waren aus den kargen Flächen, den tiefen Schluchten und den hohlen Behausungen, aus den<br />

weiten Nadelwäldern und dem gelegentlichen Donner der Steinlawinen Persönlichkeiten<br />

entstanden, hatten auf ihre eigene Art begonnen zu atmen, zu sein - und zu herrschen.<br />

���<br />

„Woher willst du wissen, daß das die richtige Abzweigung ist?“<br />

„Es ist die gerade Fortsetzung des Gangs, durch den wir gekommen sind.“ erklärte Manyr,<br />

nachdem er mit Mühe Luft geholt hatte.<br />

„Eben. Wenn sich der Dieb vor uns versteckt, ist er vielleicht in einen der Seitengänge geflohen.“<br />

„Nein.“ brachte der Alte mit rasselndem Atem hervor.<br />

„Nein?“<br />

„Nein, er wird sich nicht verstecken. Und er wird ganz sicher nicht fliehen.“ Er schloß die Augen.<br />

„Er wird dableiben und mich zwingen zu zaubern, zu handeln...“<br />

���<br />

Wenn die Macht des Berges zu eigenem Leben erwachte, kamen oft Menschen dazu, die diese<br />

Macht übernehmen wollten. Oft war es ihnen auch gelungen. Der Einzelne dachte kurz an den<br />

Bergmeister, eine der jüngeren Inkarnationen des Berg-Seins. Nicht ganz Mensch, aber auch nicht<br />

ganz Naturgewalt, lebte er mit und von dem Atem des Gebirges. Aber wie die Unbekannten von der

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