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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

mich gerichtet, aber nicht immer schienen sie mich wahrzunehmen, manchmal blickten sie auch durch<br />

mich hindurch in die Unendlichkeit oder an ferne, mir unbekannte Orte. Einige Male hatte ich das<br />

Gefühl, er würde tief in mich hineinblicken, so wie es die Dame in Rot getan hatte, auf eine mir nicht<br />

verständliche Weise direkt mit meiner Seele kommunizieren. Manchmal erkannte er mich als<br />

Atakuela und nannte mich auch beim Namen, oft aber schien er auch eine andere Person in mir zu<br />

sehen, jemand, den er früher gekannt hatte. Er nannte mich Esmée, Istafel, Liko und bei anderen<br />

Namen. Der alte Mann sprach nicht immer so, daß ich ihn verstehen konnte, oft auch in fremden<br />

Sprachen, von denen ich sicher bin, daß sie nirgendwo auf Nontariell gebräuchlich sind, oder in<br />

Bildern und Metaphern, die ich nicht imstande war, zu begreifen; von Zeit zu Zeit schien er in<br />

Abgründe zu blicken jenseits jeder Vorstellungskraft, dann schwoll seine Stimme an zu einem<br />

schrillen Kreischen, oder sie verebbte zu einem Flüstern, das so leise war, daß ich mein Ohr ganz fest<br />

an seinen Mund halten mußte und doch nicht alles hörte, was er sprach. Häufig begann er auch zu<br />

stammeln, nur Bruchstücke, Satzfetzen, Wortfragmente sprudelten von seinen Lippen und ergaben für<br />

mich gar keinen oder einen nur unzureichenden Sinn. So kommt es, daß ich kaum die Hälfte von dem<br />

verstehen konnte, was er mir anvertraute, das Wenige jedoch will ich hier getreulich wiedergeben, mir<br />

selbst zur Erinnerungsstütze für künftige Tage, wenn die Verschwörung bezwungen ist und ich wieder<br />

frei bin. Oh, wann mag dies wohl sein?<br />

Es gibt ein Wesen, vielleicht ist es auch ein Prinzip, welches Ludomill als Yakatná bezeichnete,<br />

manchmal auch als Ding. Es existiert jenseits der Grenzen von Koatlitek im tiefen Abgrund zwischen<br />

den Sternen, oder, wie Ludomill es ausdrückte, „auf der anderen Seite der Nacht“. Dieser Wesenheit<br />

hat sich der alte Meister in seiner Jugend schon verschrieben, die Jahrhunderte (Jahrtausende?)<br />

zurückliegen muß, um Einsicht in Geheimnisse zu erhalten, die den Sterblichen normalerweise<br />

verborgen sind, und um Macht zu erringen, die, wenn ich seinen Worten Glauben schenken darf,<br />

größer ist als die der Götter von Koatlitek, die Ludomill Penhaligon mit der gleichen Verachtung<br />

sieht, wie man sie auch der Dame in Rot zuschreibt. Der Preis hierfür waren dunkle Riten und eine<br />

unheilige Verehrung, die Ludomill dem „Flüsterer im Abgrund“ zuteil werden ließ und mit denen er<br />

ihm kurzfristig ein Tor öffnete auf diese Welt, die ihm normalerweise verwehrt ist, geschützt durch<br />

etwas, was der alte Zauberer nur die Siegel nannte, oder die Wächter, wobei ich mir nicht sicher bin,<br />

ob er damit das Gleiche meinte oder unterschiedliche Dinge. Ich weiß nicht, welchen Nutzen ein<br />

Wesen wie Yakatná daraus zieht, Koatlitek betreten zu dürfen, doch Ludomill erging sich in langen<br />

Schilderungen der Schrecknisse, die er im Namen des „Wanderers in Dunkelheit“ vollbracht hatte und<br />

die die Übeltaten eines Sariel Mizgar als pure Kinderstreiche erscheinen lassen. Meine Hand sträubt<br />

sich, das niederzuschreiben, was Ludomill mir berichtet hat, ungeachtet meines Vorsatzes, denn<br />

gnädig wäre es, die grausigen Details zu vergessen, auch wenn ich nicht glaube, daß mir das jemals<br />

beschieden sein wird. Noch im Grab werde ich mich der Verbrechen entsinnen, von denen Mord,<br />

Schändung und Seelenraub noch die Geringsten waren, welche ich als Beichte aus dem Mund eines<br />

reuigen Mannes vernahm.<br />

Ludomill Penhaligon schien durch sein Geständnis Vergebung von mir zu erhoffen, und manche der<br />

Namen, mit denen er mich ansprach, waren, so denke ich, die seiner Opfer. Doch selbst wenn ich<br />

gewollt hätte, wie könnte ich ihm vergeben, da er mir doch nichts angetan hatte. Ich bin keine<br />

Priesterin, ihm die Absolution zu erteilen, zumal es selbst der Güte eines Yanec d´Ibrisco<br />

schwergefallen wäre, solche Greuel zu verzeihen, wie sie hier offenbart wurden. Der alte Meister liegt<br />

im Sterben, obwohl sein Körper geheilt ist, aber es ist nicht das Leben, an das er sich so verzweifelt<br />

klammert, sondern an die Illusion seines Seelenheils. Er weiß, daß selbst die Vergebung von Hesvite<br />

ihn nicht retten würde, daß es für ihn keine Hoffnung mehr gibt. Er hat Yakatná den Pakt<br />

aufgekündigt, die Riten nicht mehr durchgeführt, das Tor auf diese Welt geschlossen gehalten, weil er<br />

am Ende die Schuld nicht mehr ertragen konnte, die er wieder und wieder auf sich lud. Jetzt, wo er<br />

schwach ist, wo er im Sterben liegt, wird der „Wanderer in Dunkelheit“ kommen und ihn holen. Er<br />

wird seine Seele fressen.<br />

Der Alte schläft nun, von unruhigen Träumen geschüttelt, und erlebt vorab bereits die Ankunft seines<br />

Gottes, den er verraten hat. Er schreit im Schlaf und wimmert und flüstert immer wieder: „er kommt<br />

mich holen...“ Ludomills Verdammnis hat bereits begonnen, er trägt seine Hölle im eigenen Herzen.<br />

Angesichts seiner grausigen Beichte fällt es mir schwer, Mitleid mit ihm zu empfinden.<br />

25. Talu?

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