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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Manyr saß an einem Tisch in seinem Keller. Die Wände des Raums waren mit hohen Regalen<br />

vollgestellt, in denen kleine Phiolen und bauchige Reagenzgläser sich mit unzähligen dicken<br />

Wälzern und einigen verstreuten Pergamentrollen abwechselten. Der größte Teil des Bodens war<br />

leergeräumt und mit Sand bedeckt worden, in den der alte Schreiber zwei ineinander verschlungene<br />

Dreiecke gezeichnet hatte. Wo sich drei der Linien trafen, hatte er die kleine Figur aufgestellt.<br />

Das einzige Licht im Keller seines Hauses kam von den an der Wand angebrachten Fackeln, deren<br />

zitternde Flammen ihren Schein mal hierhin und mal dorthin warfen. In den Halbschatten sah die<br />

Krähe noch lebendiger aus als vorher, der vorgestreckte Kopf schien bereit, nach der Hand eines<br />

Menschen zu schnappen, die scharfen Krallen mochten fähig sein, menschliche Augen<br />

auszukratzen.<br />

Manyr hatte in einem seiner Folianten die richtige Stelle gefunden. Er stand vom Tisch auf - das<br />

Buch ließ er aufgeschlagen liegen - und ging hinüber zu der schweren Türe, die zur Treppe<br />

hinaufführte. Mit einem nicht geringen Kraftaufwand entriegelte und öffnete er sie. Ein Vogel<br />

mußte fliegen können.<br />

Dann wanderte er zu der seltsamen Figur im Sand zurück und kniete sich an eine Spitze des<br />

Vielecks. „- gebrauchst Alle Kräfte der Hohen Kunst zum Sehn und zum Wandern -“ ging es ihm<br />

durch den Kopf. Dann schloß er die Augen und konzentrierte sich auf die Worte der Macht. Die<br />

alten Pirman-Silben schlichen sich aus einem dunklen Winkel seiner Person in sein Bewußtsein<br />

hinein, begannen einen unendlich langsamen Tanz um das Bild der Krähe in seinen Augen.<br />

PIR EN ROT. PIR AL ROT. PIR EN ROT. flüsterten sie: Gedanken in mir, Gedanken fort, Gedanken<br />

in mir... Die Augen der Holzfigur öffneten sich. Der Schnabel der Krähe schnappte ein paar Mal<br />

auf und zu.<br />

PIR AL ROT. PIR EN HOS. PIR AL ROT. - Gedanken fort von mir, Gedanken in dir, Gedanken<br />

fort von mir... Manyr zuckte plötzlich unter einem schmerzhaften Krampf zusammen. Im selben<br />

Augenblick schlug die Krähe einmal mit den Flügeln, dann lagen sie wieder starr an ihrer Seite.<br />

ROT EN HOS! schrie Manyr auf, während sich sein Körper ruckartig zusammenrollte. Die<br />

Fackeln zitterten. Die Flammen schrumpften. In die dunklen Schreie des Menschen mischte sich<br />

das schrille Krächzen eines Vogels. Manyr litt grausame Qualen. Seine Flügel waren taub, seine Füße<br />

krallten sich krampfhaft in den Sand unter seinen Füßen. Immer und immer wieder schrie er<br />

seinen Schmerz in die große Halle über ihm hinaus. Dann raffte er sich zusammen und floh diesen<br />

Ort mit ein paar Flügelschlägen.<br />

���<br />

Die Diebesbeute im Schnabel, glitt der schwarze Falke über dem Rattenloch dahin. Sein Blick streifte<br />

über die kleinen und großen Häuser, über das geschäftige Treiben in den engen Gassen. Er<br />

beobachtete, wie eine junge Frau in einem Hinterhof ihr Leben ließ und wie eine Gruppe junger<br />

Knaben von erfahreneren Beutelschneidern ausgeraubt wurde.<br />

Den ersten Teil seiner Aufgabe hatte er erfüllt; es fehlte noch eine Hälfte der Beute, dann konnte er<br />

zurückkehren. Wo war das zweite teure Stück, nach dem er suchen mußte?<br />

Plötzlich erkannte er unter den vielen hastig eilenden Menschen und den langsam einherwandernden<br />

Händlern die Schmiedin, deren Erbe zwischen seinen Kiefern steckte. Sie rannte gerade aus einer<br />

Taverne heraus und quer über die Straße zu einem winzigen Bau ohne Obergeschoß. Dort schlug sie<br />

wie wild gegen die Türe und begann laut zu rufen.<br />

���<br />

Der Morgen war wunderschön, wenn auch kalt. Die anderen Vögel flogen gemeinsam, er alleine.<br />

Die Luft schmiegte sich an seine Federn. Die anderen Krähen hatten einen Schwarm, er flog alleine.<br />

Verwirrung machte sich breit. Was tat er hier? Die Winde, die seinen Körper umfaßten, die Höhe,<br />

in die er sich begeben hatte, das alles kam ihm falsch vor. Wer war er eigentlich? Gehörte er<br />

überhauot in die Luft?<br />

Er hatte etwas vorgehabt - was war es gewesen? Einzelne Worte rannten durch seine Gedanken wie<br />

eine heiße Klinge, die einen Rücken hinauflief und erst am Nacken haltmachte. Kam, erinnerte er<br />

sich. Und Tak. Und Suche. Und Finden. Das war es - das mußte es sein. Er mußte - diesen -

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