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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

„Oder wenn Ihr ein Eisengitter oder eine Kette braucht, um Euer Haus zu schützen -“<br />

„Nein, ich interessiere mich mehr für Euer Hobby, Schmiedin. Wie ich hörte, schnitzt Ihr in<br />

Eurer Freizeit gerne kleine Skulpturen aus Holz, hübsche kleine Tierchen wie der Fuchs dort oben.“<br />

Er zeigte auf ein von der Wand hängendes Brett. Neben einem Wenigen an Geschirr stand dort<br />

tatsächlich ein kleiner hölzerner Fuchs samt Eingang zu seinem Bau, alles aus einem Stück, einer<br />

ihrer größeren Erfolge.<br />

„Oh, normalerweise schnitze ich eigentlich Menschen.“<br />

„Ich weiß. Aber mich interessieren die Tiere.“<br />

„Woher wißt Ihr das alles überhaupt, alter Mann?“<br />

Manyr schüttelte kurz den Kopf, als wäre er senil und hätte die Frage nicht ganz verstanden. Dann<br />

entgegnete er: „Habt Ihr Euch auch schon mal an Vögeln versucht?“<br />

���<br />

Seit etwa drei Monaten hatte die Mine nun einen Bewohner, einen Menschen und Einsiedler. Vor<br />

langer Zeit einmal hatte der alte Mann einen Namen gehabt, aber nun dachte er von sich selbst nur<br />

noch als dem Einzelnen. Die anderen waren zusammen geblieben, er hatte sich von ihnen getrennt.<br />

Die anderen blieben ihr ganzes Leben lang winziger Teil einer gewaltigen Gruppe, keiner erfuhr<br />

jemals Ruhm oder Ehre, noch die Furcht seiner Mitmenschen. Nur der Einzelne hatte die Welt<br />

kennengelernt, und die Welt ihn. Im Staate <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> war er zwar unbekannt, doch einige Völker<br />

im Süden Nontariells und sogar einige wenige Bewohner anderer Kontinente hatten seine<br />

Bekanntschaft gemacht und die Begegnung gewiß noch nicht vergessen.<br />

Er saß im Schneidersitz auf dem Boden des steinernen Tunnels, sein Rücken war gerade, die Hände<br />

ruhten sacht auf den Schenkeln. Durch den dunklen Gang schien vereinzelt der schwache Schein der<br />

wenigen Kerzen, die vor ihm an den Spitzen eines in den Untergrund geritzten Sternes standen. Fünf<br />

Strahlen, drei Kerzen. Es fehlten zwei Kerzen und zwei Artefakte; drei Schlösser waren geöffnet, es<br />

brauchte noch zwei Schlüssel.<br />

Er hob einige Fetzen Pergament auf und überflog die Zeilen, wie er es schon so oft getan hatte.<br />

Eine Geschichte, die hundertfünfzig Jahre alt war und die die Menschen in diesem Land ohne<br />

Gedächtnis natürlich längst vergessen hatten. Keiner machte sich hier die Mühe, die Vergangenheit<br />

zu ehren. Aber häufig war die Vergangenheit wertvoll, nicht selten enthielt sie die Wege zu wahrer<br />

Macht und manchmal war sie wie eine Landkarte der Gegenwart, mit der man das, was heute<br />

geschah, mühelos entziffern und seinen wahren Sinn erkennen konnte.<br />

Der Talu brachte den Wind über die Wasser, und der Wind trug die Schätze des Meeres an<br />

Nontariells Küste.<br />

���<br />

Kein Gruß zum Abschied. Kein unnötiges Wort. Und keine Erklärung. Entweder verbarg der<br />

kleine Alte mit seinen grauen Haaren, den schrägen Mundwinkeln und dem seltsamen Gerät auf<br />

seiner Nase gezielt etwas vor ihr, oder - und das war wahrscheinlicher - der eintönige Beruf des<br />

Schreibers hatte seine Seele über die Jahrzehnte mit ebensoviel Staub überzogen, wie auf seiner<br />

Kutte lag, und er hatte das Interesse an anderen Menschen verloren.<br />

Statt dessen sammelte er Holzfigürchen. Die Götter alleine wußten, was er mit ihnen in den<br />

dunklen Stunden der Nacht anfing, wenn seine wenigen Kunden schlafengegangen waren.<br />

Wahrscheinlich redete er mit seinen Skulpturen! Braver Hund, braver Hund, gell, du wartest auf<br />

deinen Herrn, ja, oh, hast du wieder einen Splitter in der Pfote? Ach so, das ist ja dein eigenes<br />

Holz...<br />

Es gab schlimmere Sorten von Wahnsinn in dieser Stadt, aber trotzdem... Lyr hatte nie<br />

verstanden, wie sich ein Mensch mit Lesen und Schreiben beschäftigen konnte, solange die<br />

Tavernen noch geöffnet waren. Eines war sicher: Viel Geld konnte der alte Mann nicht besitzen,<br />

sonst hätten ihn seine Nachbarn längst ausgeraubt. Und wenn er sich nun eine Krähe aus Holz<br />

wünschte, um glücklich zu werden, und dafür sein letztes Geld auszugeben bereit war - er hatte ihr<br />

den Preis von drei Schwertern geboten -, dann sollte er seine Krähe auch bekommen.<br />

Plötzlich fiel Lyrs Blick auf die Vögel, die in ihrem Hof auf dem Boden hockten und nach<br />

spärlicher Nahrung zwischen den Eisenspänen pickten. Sie lachte noch einmal leise über den

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