Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösl<br />
Es dauerte nicht lange, und diese drei waren die einzigen Personen, die im Totenkopf zurückgeblieben<br />
waren. Alle anderen stahlen sich heimlich davon, während die Dame in Rot abgelenkt war. Für Harl<br />
und Kam Tak dehnten sich die Minuten zu einer zeitlosen Ewigkeit des bangen Wartens.<br />
Endlich.<br />
Nach über einer Stunde erhob sich die Dame mit allen Anzeichen deutlicher Zufriedenheit von dem<br />
Tisch, blies die Kerze aus und legte eine einzelne Münze auf die Tischplatte. Dann nahm sie ihre<br />
Schriftrolle und ging. Die Münze war von einer Art, wie sie Harl niemals zuvor gesehen hatte, aber<br />
sie sah wertvoll aus, und der dicke Harl bekam später von einem Geldwechsler in der Nordstadt 200<br />
Goldsonnen dafür! Danach blieb der Totenkopf erst einmal für eine Weile geschlossen. Es sei<br />
hinzugefügt, daß der Wein in dem Glas ein anderer war als der, den Harl eingeschenkt hat (die Rote<br />
hatte den Becher nur bis zur Hälfte geleert), und als Harl davon kostete, meinte er, es sei das beste<br />
gewesen, was er jemals getrunken habe.<br />
Die Dame in Rot wandelte hernach wie ein Gespenst durch die verwaiste Unterstadt, nachdem sie den<br />
Totenkopf verlassen hatte, denn natürlich hatte sich die Kunde von ihrer Anwesenheit wie ein<br />
Lauffeuer verbreitet. Alle Fenster und Türen waren verrammelt, und nicht einmal die Tapfersten<br />
wagten sich mehr auf die Straße.<br />
Allein einer sammelte all seinen Mut, obschon es im Rattenloch gewißlich Tollkühnere gab als ihn,<br />
denn seine Neugierde war stärker denn seine Furcht. Doch wäre es falsch, sein Wagnis als aus purer<br />
Neugier geboren zu umschreiben, war es doch vielmehr ein inneres Bedürfnis, das ihn trieb. Vielleicht<br />
hatte er endlich eine gefunden, die so war wie er...<br />
Der schmächtige Jüngling, fast war er noch ein Knabe, mit dem goldblonden Haar und dem spärlichen<br />
Flaum eines noch nicht so zu nennenden Bartes auf den blaßblauen Wangen, die in diesem<br />
Augenblick noch weit bleicher waren als zu anderer Stunde, trat aus einem Hauseingang und der<br />
Roten Dame direkt in den Weg. Er machte eine galante Verbeugung und blickte ihr mit mehr<br />
Festigkeit, als er im Herzen trug, in die blaßgelben Augen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr<br />
elfenbeinernes Antlitz, während sie einen höfischen Knicks andeutete.<br />
„Sei mir gegrüßt, o süßer Aramar,“ hauchte sie mit einer Stimme wie der Gesang einer Nachtigall,<br />
erfüllt von einer seltsamen Mischung aus Spott und Achtung. „Ein Junge jetzt, ein Eingeweihter<br />
einst.“<br />
Sie reichte ihm ihre zierliche Hand zum Kuß. Zögernd ergriff der Jüngling die dargebotene Hand der<br />
Roten Zauberin und berührte mit seinen mit einem Mal trockenen Lippen ihre blasse Haut, die sich<br />
anfühlte wie erlesenster Samt und doch kühl war wie ein Windzug am Abend. Ihn fröstelte, und seine<br />
ohnehin aufgesetzte Selbsticherheit schwand dahin. Er blinzelte verwirrt, dann raffte er sich zu einer<br />
Frage auf, die angesichts seiner gewohnten Wortgewandheit erschreckend plump und einfältig klang.<br />
„Was meint Ihr damit, ehrenwertes Fräulein?“<br />
Das silberne Glockengeläut ihres Lachens ergoß sich über ihn, ehe sie ihm mit ironischem Lächeln<br />
eröffnete: „Wir sind von der gleichen Art.“<br />
„Aber ich bin nicht wie Ihr!“ rief Aramar erschrocken. Es klang, als wolle er sagen: Ich bin doch kein<br />
Dämon!<br />
Es mied ihren Blick, bis er bemerkte, daß ihre Schwefelaugen von einem Schleier überzogen schienen<br />
und durch ihn hindurch in unendliche Ferne sahen.<br />
„Du bist nicht wie ich,“ sagte die Dame in Rot. „Und doch bist Du wie ich. Wir sind umgeben von<br />
Blinden, die die Welt bevölkern wie Vieh, Parasiten der Schöpfung. Wir aber, wir sind Sehende. Uns<br />
offenbart die Schöpfung ihre tiefsten Geheimnisse. Wir ergründen die Kräfte, die die Welt im<br />
Innersten zusammenhält - und machen sie uns untertan.“<br />
„Wollt Ihr damit andeuten, holde Dame... auch Ihr habt die Fähigkeit?“<br />
„Nicht Deine Fähigkeit, Aramar. Aber andere Fähigkeiten. Jeder von uns hat sein eigenes Talent, und<br />
wir bilden auch keine Gilde oder Zunft, aber wir erkennen einander, wenn wir uns begegnen.“ Ihr<br />
fahler Blick drang ihm durch die Smaragdaugen und schien ihn bis auf den tiefsten Grund seiner<br />
Seele zu durchbohren, ihn auszuleuchten, einzuschätzen. Aramar konnte nichts dagegen tun, außer zu<br />
bereuen, daß er so vermessen gewesen war, die Frau anzusprechen, die in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> als Dämon<br />
galt und der man nachsagte, sie lache über die Gesetze der Götter und über die Götter selbst. Es gab<br />
nicht wenige in der Geteilten Stadt, die hielten sie für mächtiger als die großen Gottheiten in ihren<br />
Tempeln, für mächtiger als Hesvite oder Selefra und für imstande, diese von ihren Sockeln zu stürzen,<br />
auch wenn die Priesterschaft solche Einschätzungen natürlich als Ketzerei verurteilte.