Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />
von vorne, diesmal mit den Läden. Wieder wurde der Topf geholt, die Scharniere wurden gefettet<br />
und der lange Dolch kam in die Hand. Dieser öffnete die Läden einen Spalt breit, nur um einer Art<br />
Haken an einem langen Stab Platz zu machen. Der Haken drang mit leichtem Knirschen in das Holz<br />
des Riegels ein, und mit einiger Mühe und leisem Ächzen gelang es dem Schatten, den Riegel soweit<br />
hoch zu drücken, daß er die Läden öffnen konnte, wobei er, sobald seine Hand durch die Spalte paßte,<br />
den Riegel mit einer Hand festhielt und langsam und vorsichtig zur Seite drehte. Der Weg war frei!<br />
Ohne große Mühe und so gut wie geräuschlos kletterte die Figur in das Zimmer, nachdem sie ihr<br />
Werkzeug wieder verstaut hatte. In dem Zimmer schlief Keriam friedlich und nichtsahnend in seinem<br />
großen, kostbaren Bett, den Kopf, der als einziges unter der riesigen, mit Federn gefüllten, samtenen<br />
Decke hervorschaute, auf einem ebenso beschaffenen Kissen gebettet, die Lippen zu einem Lächeln<br />
geformt. Der Schatten trat an das Bett heran, legte ein Stück Pergament auf das Kissen neben Keriams<br />
Kopf. Dann griff wieder eine Hand unter den schwarzen Umhang und wieder tauchte der geschwärzte<br />
Dolch auf. Der Arm ging in einer Ausholbewegung nach oben, wo er einen kurzen Moment verharrte.<br />
Dann stach die Figur mit einem Lächeln zu.<br />
-2-<br />
Die schweren Tore aus dem nahezu schwarzen Eriak-Holz öffneten sich langsam und geräuschlos. Er<br />
betrachtete wie in den Minuten zuvor fasziniert die Schnitzereien im Holz, die trotz des im Raum<br />
herrschenden Halbdunkels deutlich hervortraten und Szenen aus dem Leben und vor allem Wirken<br />
bedeutender Triumvirate zeigten. Er gedachte, noch einige Szenen hinzuzufügen.<br />
Je weiter sich die Tore öffneten, um so mehr Menschen konnte er ausmachen, die sich auf dem<br />
halbrunden Platz versammelt hatten, um ihm zuzujubeln. Am Fuße der steilen, strahlend weißen<br />
Marmortreppe, die zum Tempel hinaufführte, standen Wachen der Garde, die das Volk von der<br />
Treppe hielten.<br />
Nachdem die Tore endlich durch einen leisen, metallenen Ton anzeigten, daß sie ganz geöffnet waren,<br />
setzte sich die Prozession in Bewegung, durch das Tempeltor in die fast gänzliche Stille, die, sobald<br />
die Fahnenträger, die das Wappen - sein Wappen - hoch erhoben trugen, ins Freie traten, in tosenden<br />
Jubel umschlug. Nach den Trägern folgte der Hohepriester, und dann kam er.<br />
In dem Moment, wo er das Tor durchquerte und auf den überdachten, von Säulen umgebenen<br />
Vorplatz trat, setzte das Dröhnen der acht großen Gongs ein, die selbst den Jubel des Volkes<br />
übertönten und die von den acht Priestern wie durch ein Wunder genau zeitgleich geschlagen wurden.<br />
Langsam schritt er die Stufen hinab, gefolgt von der Ehrengarde, bestehend aus zehn der besten<br />
Soldaten <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s in Prunkrüstung, und einigen Priestern, die die Insignien seiner Würde zum<br />
Palast trugen, wo er sie überreicht bekommen würde. Schon jetzt konnte man sehen, daß ihn bis zum<br />
Palast jubelnde Menschen erwarteten, er hatte auch nichts anderes erwartet. Die jubelnde Menge teilte<br />
sich, sobald die Fahnenträger sie erreichte und ließ die Prozession passieren. Die Menschen schlossen<br />
sich ihr allerdings an, so daß schon als sie den Platz verließen, hunderte durch die Straßen gingen.<br />
Und das Spiel wiederholte sich, Sprung für Sprung öffnete sich die Masse, um ihn hindurchzulassen<br />
und sich dann anzuschließen, am Palast würden Tausende von Menschen versammelt sein.<br />
Eine Straße nach der anderen wurde so durchquert und schließlich war der Palast über den Köpfen der<br />
vor ihm versammelten Menschen zu sehen, das dreigeschossige Hauptgebäude mit dem Mittelturm<br />
und den vier winkelförmigen Nebengebäuden, die die Grenzen des Platzes markierten. Weiterhin<br />
teilte sich die Menge wie Schnee, durch das man ein Brett drückte, und so kamen sie zur Treppe, die<br />
zu dem offenstehenden Tor des Palastes führte. Auf der Treppe stand ein einzelner Mann, ein Soldat<br />
der Stadtwache, nach der Uniform zu urteilen. Die Fahnenträger traten auf den Soldaten zu, doch er<br />
machte keine Anstalten, zur Seite zu treten, so daß sie ebenso wie der Hohepriester direkt vor dem<br />
Soldaten stehenblieben und sich erwartungsvoll zu ihm umdrehten. Hinter ihm rasselte die Garde<br />
nervös mit den Waffen, das Volk murrte. Er trat an den Fuß der Treppe, was sollte er tun? Er könnte<br />
den Mann verhaften lassen, doch war das kein guter Anfang einer Regentschaft. Er setzte zum<br />
Sprechen an, um den Mann höflich, aber bestimmt aufzufordern, Platz zu machen, doch in diesem<br />
Moment erkannte er den Soldaten, es war Chatsar Hlac.<br />
„Du kommst hier nicht herein!“ Chatsars Stimme übertönte alle Geräusche auf dem Platz, auf dem<br />
sofort Totenstille herrschte. „Du nicht! Vatermörder werden den Palast nie betreten!“<br />
Er erwachte schweißgebadet in seinem Bett, schlug die schwere, warme Decke zurück und wischte<br />
sich den Schweiß von der Stirn. Schon wieder ein Alptraum! Seit Wochen quälten ihn immer wieder<br />
dieser oder ähnliche Träume, in jedem warf ihm Chatsar Mord vor. Hoffentlich würde er noch einmal