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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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1. Wie alles begann...<br />

Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Stiefkinder der Schöpfung - der Geschichte erster Teil<br />

Die vier Jahreszeiten<br />

Aus dem Tagebuch der Atakuela de Kuansa (Verle 165 n.G. bis Talu 167)<br />

Marc Rösel<br />

Frühlingsgefühle<br />

3. Verle (165 n.G.)<br />

Heute morgen habe ich in der Pension „Lindenblatt“ Quartier bezogen.<br />

Als ich die Kranichgasse zum ersten Mal betrat - wobei ich hinzufügen muß, daß mir der Ausdruck<br />

„Gasse“ anbetrachts der breiten gepflasterten Straße als ein wenig fehl am Platze erscheint - ,fühlte<br />

ich mich um gut hundert Jahre in der Zeit zurückversetzt und starrte bewundernd auf die imposanten<br />

vom Alter gezeichneten Gemäuer, die durch den allmählich einsetzenden Verfall ihrer hohen und<br />

kunstvoll behauenen Fassaden mit den spitzbögigen Fenstern und den eingemeißelten Verzierungen<br />

an den Fensterrahmen und am Dachfirst nichts von ihrer Faszination eingebüßt hatten, vielmehr noch<br />

verlockender und geheimnisvoller wirkten. Ich war damals erst elf, und ich träumte mit offenen<br />

Augen von der verblichenen Pracht verflossener Epochen. Es ist immer das Alter, das Altehrwürdige,<br />

das gerade - aber nicht nur - auf Kinder einen besonderen Reiz ausübt, der Flair vergessener<br />

Geheimnisse, schaurig-schöner Geschichten, die nur darauf warten, erzählt zu werden, ein leichter<br />

Grusel, der einen wohlig durchflutet... Welches Kind träumt nicht davon, in einem verwunschenen<br />

Schloß zu spielen und dort wunderbare Abenteuer zu erleben?<br />

Die alte Straße - welcher armselige Tropf kam auf die Idee, sie als Gasse zu benennen? - hat heute<br />

noch die gleiche Wirkung auf mich wie damals, in meiner Kindheit, und jetzt endlich ist mein Traum<br />

wahr geworden. Es handelt sich bei meiner zukünftigen Heimstatt um ein schmales fünfstöckiges<br />

Gebäude, erbaut wie auch alle die Nachbarhäuser in dem verschnörkelten und für die heutige Zeit<br />

altertümlich wirkenden architektonischen Stil der Gründerjahre, die Fassade ist stellenweise<br />

abgebröckelt und schadhaft, der Stein von rotem Efeu überwuchert. Das Haus wirkt romantisch und<br />

irgendwie... verwunschen. Ich lache über mich selbst, eine Dame von 26 Jahren, die den Fantasien<br />

ihrer Kinderjahre nachhängt, aber warum auch nicht? Ich denke, daß ich mich hier wohlfühlen werde.<br />

4. Verle<br />

Mistress Yatzikenia bietet für diejenigen ihrer Gäste, die diese Leistung in Anspruch nehmen wollen,<br />

ein gemeinsames Abendessen an. Sie ist eine sehr gute Köchin. Heute abend habe ich die meisten der<br />

übrigen Bewohner der Pension kennengelernt.<br />

Es erscheinen mir durchgehend integere und anständige Zeitgenossen, was nicht weiter verwundert,<br />

bedenkt man das tugendhafte Wesen der Hauswirtin. Sie ist Witwe und betreibt die Pension alleine,<br />

natürlich würde sie keine Zimmer an leichtfertige Mädchen, Trunkenbolde und lärmende Burschen<br />

vergeben. Allerdings hat der im Dachgeschoß wohnende Kestril Dimitri, ein junger und kecker<br />

Geselle, eine für meinen Geschmack etwas zu spitze Zunge und eine gar zu freche Ausdrucksweise,<br />

die auf eine lockere Lebenseinstellung verweist. Er ist in den Prunk vergangener Tage gekleidet, trägt<br />

eine einstens teure, wenn auch inzwischen abgewetzte und ausgeblichene Weste und Jacke aus Samt<br />

über einem zerknitterten Rüschenhemd und für meinen Geschnack gar zu viele versteckte Dolche und<br />

Messer (die meinem Blick dennoch nicht entgangen sind). Jedoch scheint ihn die Wirtin ins Herz<br />

geschlossen zu haben und behandelt ihn wie einen großen Jungen, was nahelegt, daß es sich bei ihm<br />

zumindest um keinen Strauchdieb oder gar einen Assassinen handelt. Doch möchte ich hinzufügen,<br />

daß Mistress Yatzikenia keine Kinder hat und in ihm vielleicht so etwas wie einen Ersatzsohn sehen<br />

mag, was ihre Urteilsfähigkeit natürlich erheblich einschränkt. Bin ich zu mißtrauisch?<br />

6.Verle<br />

Die Hauswirtin, Mistress Yatzikenia Kwasazmín, ist eine resolute ältere Person, die den rechten<br />

Umgang zu wahren weiß. Sie führt ihre Pension mit strenger aber auch mütterlicher Hand. Ich mag sie<br />

und zweifle nicht daran, daß ich gut mit ihr zurechtkomme.<br />

In der letzten Zeit denke ich oft an Mutter, die ich nie richtig kennenlernte, da sie bei dem Großen<br />

Krieg in der Alten Heimat den Tod fand, als ich noch ein Säugling war. Meine Erinnerungen an sie<br />

sind nur vage und verschwommen. Vater hat mir natürlich oft von ihr erzählt, aber das ist nicht

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