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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Wo ich hier sitze und dies schreibe, erscheint mir mein eigenes Unglück gering im Vergleich zu der<br />

Verdammnis, der Ludomill anheimgefallen ist. Er war nicht unschuldig, beileibe nicht, und doch war<br />

er am Ende ein Opfer, nicht nur der Verschwörung (wenn er überhaupt jemals ein Opfer der<br />

Verschwörung war und dies nicht nur meine Interpretation der Dinge ist), vielmehr ein Opfer seiner<br />

eigenen Reue. Er starb, weil er nach Jahrtausenden sein Gewissen wiederentdeckt hat. Was in jeder<br />

Religion von Koatlitek Vergebung bringt, ihm brachte es die Verdammnis. Welch Ironie! Ludomill<br />

Penhaligon war eine tragische Gestalt.<br />

Am Abend des 24. saß er kerzengrade in seinem Bett und blickte mir mit einer erschreckenden<br />

Klarheit in den Augen fest ins Gesicht. Aller Nebel schien von seinem Geist gewichen, und selbst<br />

seine Furcht war zu einem Schatten abgeklungen. Er winkte mich an sein Bett, und zögernd folgte ich,<br />

setzte mich auf die Kante.<br />

„Es ist soweit,“ sagte er leise, aber seine Stimme klang gefaßt. Nur in der Tiefe seiner<br />

unergründlichen Augen flackerte es ganz leicht auf. „Yakatná rüttelt an den Toren dieser Welt. Er<br />

steht direkt vor Koatlitek und rennt gegen die Siegel an; nicht lange, und sie werden brechen. Mir<br />

bleibt nicht mehr viel Zeit.“<br />

Ich blickte weg, weil ich seinem Blick nicht standhalten konnte. Ludomill schüttelte traurig den Kopf.<br />

„Du brauchst mir nicht zu verzeihen, Atakuela, und du mußt auch nicht verstehen, warum ich meinen<br />

dunklen Weg eingeschlagen habe. Es war töricht von mir, von dir Absolution zu erwarten, dich als<br />

Stellvertreterin all meiner Opfer zu sehen, dich, der ich nie ein Leid zugefügt habe. Geh nun und laß<br />

mich allein. Ich will nicht auch dich noch ins Verderben reißen.“<br />

„Nein, Ludomill, ich bleibe. Ich werde dich in deiner letzten Stunde nicht allein lassen.“<br />

Ich weiß selbst nicht, warum ich das sagte, aber mein Entschluß war unumstößlich. Jetzt, wo er es<br />

nicht mehr erwartete, konnte ich ihm auf einmal verzeihen. Er war der einzige in dieser Stadt der<br />

Masken, dem ich noch vertraute, trotz allem, was er getan hatte. Das war ein anderer Mann gewesen,<br />

nicht der, den ich kannte. Ich würde ihn nicht im Stich lassen!<br />

Er lachte bitter auf. „Geh, Atakuela, Mädchen. Bitte. Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das.“<br />

„Ich kann bei dir sein.“ Ich drückte seine Hand, dann nahm ich ihn sacht in den Arm. „Niemand hat es<br />

verdient, einsam zu sterben, von allen verlassen, egal, was er getan hat.“<br />

„Du Närrin,“ sagte der alte Mann, aber er sagte es voll Dankbarkeit.<br />

Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Draußen kam Sturm auf und rüttelte an dem morschen<br />

Gebälk. So, wie Yakatná an den Toren von Koatlitek rüttelte... Ich ging zum Fenster und blickte<br />

hinaus in die Nacht. Dunkle Sturmwolken waren aufgezogen und verdeckten die Sterne, ein Schleier<br />

rückte vor die Monde. Es war die dunkelste Nacht, die ich je erlebt hatte. Unnatürlich dunkel. Ein<br />

eisiger Windzug ließ den Fensterrahmen knarren und fuhr mir kalt ins Gesicht, zerzauste mein Haar<br />

und prickelte auf meiner Haut. Ich zog den Mantel enger um meine Schultern, aber die Kälte drang<br />

mir dennoch in alle Glieder. Ich sah Rauhreif, der sich auf dem Fenstersims bildete. Als ich das<br />

Fenster schließen wollte, zersplitterte die ohnehin bereits gesprungene Scheibe durch eine heftige Bö,<br />

und die scharfen Glasscherben schnitten mir in die Hand. Ich hatte das Gefühl, als würde der Sturm<br />

mich auslachen.<br />

Ludomill bat mich mit belegter Stimme: „Atakuela, bitte hole mir aus der Taverne eine Flasche Wein.<br />

Ich möchte noch einmal den Geschmack auf meiner Zunge spüren.“<br />

„Nein, Ludomill, so leicht wirst du mich nicht los. Der Sturm, das ist Yakatná, nicht wahr?“ Ich zog<br />

eine alte staubige Flasche mit süßem Likörwein aus meinem Gepäck, die ich aus dem Keller meines<br />

Vaters geholt hatte, ehe ich aufbrach, und schenkte zwei Zinnbecher voll. Einen reichte ich Ludomill.<br />

„Hier.“<br />

Der alte Mann nippte an dem samtroten Wein. Lange starrte er vor sich hin, dann sagte er so leise, daß<br />

ich es kaum hören konnte: „Ja.“<br />

Der Sturm heulte ums Haus. Frostiger Wind wehte durch das geborstene Fenster und wirbelte Staub<br />

auf vom Boden und von den Schränken. Schließlich begann Ludomill stockend zu erzählen, es war<br />

keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung, ich hatte den Eindruck, daß er einfach wollte, daß ich es<br />

wußte.<br />

„Die Pension... ich dachte, die Erdmagie würde bewirken, daß ich wieder ruhig schlafen konnte. Ich<br />

war empfänglich für die Strahlung, das wußte ich... die Bilder meiner Greuel, sie waren mir stets vor<br />

Augen, meine Opfer verfolgten mich in meinen Träumen. Als ich im „Lindenblatt“ einzog, hatte ich<br />

seit zehn Jahren nicht mehr geschlafen. Keine Stunde... Es war... ich fand mein seelisches<br />

Gleichgewicht wieder. Ich hatte Yakatná abgeschworen und wollte ein ganz normales Leben führen.

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