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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

blitzdurchzuckte Nacht. Ludomills gellender Schreckensschrei verhallte in der Ferne. Ich rannte zum<br />

Fenster, blickte ins tosende Inferno, wo sich schwarze Wolken zu bizarren Gebilden auftürmten, wo<br />

geflügelte, amorphe Dinge durch einen von Blitzen gespaltenen Himmel schwebten...<br />

Danach versank ich in eine bodenlose Finsternis, die mein Bewußtsein hinwegspülte uind mir<br />

gnädiges Vergessen brachte. Ich weiß nur noch, daß ich in wilder Paník flüchtete. Da waren Männer,<br />

die mich aufhalten wollten, und ich tötete sie. Ich rannte hinaus in die Nacht, während die Herberge<br />

hinter mir wie ein Kartenhaus zusammenstürzte, suchte ein Versteck vor dem Alptraum und fand es<br />

schließlich. Hier sitze ich nun, im Schatten eines Tempels (welcher Tempel? Welcher Gott wird hier<br />

angebetet? Ich habe es vergessen.), und mache diese Eintragungen in mein Tagebuch. Es ist<br />

aufgeweicht vom Regen, und viele Seiten sind unleserlich, die Tinte verwischt, aber ich schreibe<br />

dennoch weiter, wie eine Besessene. Dieses Tagebuch ist meine letzte Verbindung zur Wirklichkeit,<br />

zu der Welt, wie sie war, bevor der Alptraum begann. Erst die Verschwörung, und jetzt...<br />

Es hätte schon längst der Morgen anbrechen müssen, der 26. Talu, aber es ist immer noch Nacht. Der<br />

Sturm hat sich gelegt, der Regen und das Gewitter haben aufgehört. Der Wanderer in Dunkelheit ist<br />

mit seiner Beute heimgekehrt. Aber die Nacht, die Nacht... sie währt noch immer. Ich sehe hinauf zum<br />

Himmel und erkenne fremde Sternenkonstellationen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Bin ich<br />

überhaupt noch auf Koatlitek? Die Monde sind immer noch hinter einer Wolke verborgen. Ich warte.<br />

Ich warte. Nacht. Immer noch. Ich sehe keinen Menschen, außer mir, aber ich höre... Geräusche. Ein<br />

Flüstern und Raunen, als würde die Nacht mit sich selbst sprechen, manchmal ein Pfeifen, ganz weit<br />

weg. Meine einzige Gesellschaft sind die beiden dunklen Frauengestalten, die Gespenster, die mir<br />

vorgaukeln, sie wären Arpáo de Kuansa und Atuasi de Jurosa, aber auch die Geister schweigen. Sie<br />

sprechen nicht mehr, starren nur still vor sich hin. Ich vermisse ihre Stimmen. Warum haben sie<br />

aufgehört, zu mir zu sprechen? Haben sie erkannt, daß ich nicht länger auf ihre Lügen höre? Fast<br />

glaube ich, so etwas wie Furcht oder Erschrecken auf den schemenhaften Gesichtern der<br />

Geisterfrauen ausmachen zu können, aber das ist gewiß nur eine weitere Maske. Sie sind stumm. Nur<br />

die Nacht selbst spricht. Ich habe Angst.Vielleicht träume ich nur, vielleicht ist alles nur ein<br />

furchtbarer Nachtmahr. Vielleicht gibt es die Nacht nur in mir selbst, die endlose dunkle Nacht<br />

meiner Seele Ich klammere mich an meine Feder und an meinen Rapier, letzte Fixpunkte einer aus<br />

den Fugen geratenen Welt.<br />

Winter der Seele<br />

Immer noch 25. Talu?<br />

Hat Yakatná die Nacht mit sich gebracht, die ewige Nacht zwischen den Sternen? Oder hat die Dame<br />

in Rot sie gerufen, mit jenem Zauber, der Yalno sein Leben gekostet hat? Ich weiß es nicht. Ich weiß<br />

nur, daß die Sonne immer noch nicht aufgegangen ist, und ich zweifle inzwischen daran, daß sie<br />

jemals wieder aufgehen wird. Die Ewigkeit hat ihren Mantel über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ausgebreitet,<br />

vielleicht über ganz Koatlitek.<br />

Ziellos irre ich durch die Finsternis. Ich bin allein, keine Menschenseele kreuzt meinen Weg. Und<br />

dennoch, ich spüre, daß ich beobachtet werde, verfolgt. Manchmal höre ich Schritte, ganz dicht hinter<br />

mir, aber wenn ich herumwirble, die Klinge gezückt, dann ist da niemand. Ab und an klingt ein<br />

hämisches Kichern in meinen Ohren, bisweilen nehme ich seltsame und unangenehme Gerüche war.<br />

Ich weiß, irgend jemand ist da, ganz nah, ganz nah... und doch kann ich ihn nicht wahrnehmen. Er<br />

versteckt sich, belauert mich, läßt mich keine Sekunde aus den Augen. Wenn ich ihn sehe, werde ich<br />

ihn töten. Wenn ich ihn sehe.<br />

Wenn ich zum Himmel schaue, bemerke ich tanzende Wolkenfetzen, die wie lebendig zucken, aus den<br />

Wolken heraus manifestieren sich bisweilen menschenähnliche Umrisse, fahle Irrlichter geistern<br />

durch die Nacht. Einmal glaubte ich aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick auf ein schreckliches<br />

Gesicht erhaschen zu können, das vom Himmel auf mich herabstarrte, aber als ich genau hinsah,<br />

waren da nur Wolken.<br />

Bin ich der letzte Mensch in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?Bin ich der letzte Mensch auf der Welt?<br />

Nacht, immer noch<br />

Ich habe einen anderen Menschen entdeckt. Leider war er tot. Er lag mitten auf der Straße, auf dem<br />

Bauch, und als ich ihn umdrehte und ihm ins Gesicht blickte, sah ich, daß er keine Augen mehr hatte.<br />

Durch die leeren Augenhöhlen blickte ich ins Innere seines ausgehöhlten Schädels. Irgend etwas hatte

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