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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Als Aramar und Tibidago kamen und wünschten, daß ich ihr Lehrer werde, da wies ich sie von mir,<br />

ich schickte sie heim. Ich wollte keinen auf den dunklen Pfad führen, den ich beschritten hatte... „<br />

„Warum hast du dich der Dame in Rot entgegengestellt?“ fragte ich sanft.<br />

„Ich weiß es selbst nicht genau. Ich denke... es war der Versuch einer Wiedergutmachung. Indem ich<br />

Yalno vor Mariannette rettete, hoffte ich, mir selbst verzeihen zu können. Ich wünschte, mich hätte<br />

damals jemand aufgehalten! Ich war weit schlimmer als Mariannette...“<br />

„Wußte sie, was sie dir antat?“<br />

„Ja. Ihrer Meinung nach war für mich kein Platz mehr in der Welt. Ich hatte mich überlebt. Indem sie<br />

mich zerbrach, stellte sie die Ordnung der Dinge wieder her.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus dem<br />

Trinkbecher.“Mehr als hundert Jahre lang hatte ich mich vor dem Wanderer in Dunkelheit versteckt,<br />

mich vor seiner Strafe verborgen. Ich hatte die Siegel gestärkt, Koatlitek vor seinem Zugriff beschützt.<br />

Aber in Wahrheit hatte ich nur mich selbst vor ihm beschützt. Nachdem Mariannette mir meinen<br />

Zauber genommen hatte, konnte Yakatná mich wittern. Er nahm meine Fährte auf...“<br />

Wie bestätigend teilte ein bläulich-gezackter Blitz den düsteren Himmel, und sein gespenstischer<br />

Widerschein irrlichterte durch das enge Herbergszimmer. Ludomills Gesicht wirkte in dem blauen<br />

Licht wie das einer Leiche.<br />

„Wart ihr Freunde? Früher. Du und die Dame in Rot...“<br />

Der alte Zaubermeister senkte den Kopf, einige Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Ich bemerkte,<br />

daß er von Erinnerungen überwältigt wurde und versucht war, mir davon zu erzählen, doch dann<br />

begnügte er sich mit einem schlichten: „Ja.“<br />

Ein tosender Donnerschlag ließ die windschiefe Herberge erzittern. Ludomill lächelte schwach. „Er<br />

ist auf dem Weg.“<br />

Lange verharrten wir in Schweigen. Weitere Blitze zuckten und erhellten mit ihrem blauen Licht<br />

unsere armselige Zuflucht. Wir beide zählten bang die immer kürzer werdende Frist, bis das<br />

Donnergrollen folgte. Das Gewitter rückte immer näher, und mit ihm Yakatná... Irgendwann setzte ein<br />

prasselnder Regen ein, der vom tosenden Sturmwind durch die geborstene Scheibe ins Innere geweht<br />

wurde und den Boden überschwemmte. Der Regen durchnäßte mein Haar und meine Kleider,<br />

durchweichte das Bett. Wassertropfen rannen über Ludomills Gesicht, als er mit weit aufgerissenen<br />

Augen ins Gewitter starrte. Nur noch wenige Sekunden lagen zwischen Blitz und Donnerschlag.<br />

Es gab soviel, was ich Ludomill hätte fragen können, über Mariannette, über die Stadt der<br />

Marionetten, über die Verschwörung... aber ich war nicht hier, um ihn auszuhorchen, um<br />

Nutznießerin seines Wissens zu sein. Ich war hier, um ihm in seiner letzten Stunde beizustehen.<br />

„Atakuela...“<br />

Ich drückte fest seine Hand.<br />

„Der tätowierte Zauber... ich verstehe ihn nicht ganz, aber ich denke, etwas Schreckliches wird<br />

geschehen. Niemand kann Mariannette aufhalten. Niemand, wenn nicht einmal ich es vermochte. Und<br />

doch... in meinem Buchladen... die Anrufung der Wächter...“<br />

Ludomill verfiel in eine fremde Sprache, oder vielleicht murmelte er auch nur unzusammenhängende<br />

Wortfetzen, die ich nicht einordnen konnte. Ich schüttelte ihn, aber er starrte durch mich hindurch.<br />

Ein blauer Widerschein, ich erstarrte in der Bewegung, zählte... nur eine Sekunde!<br />

Plötzlich waren seine Augen wieder hellwach und angefüllt mit einer solchen Furcht, wie ich sie nie<br />

zuvor bei einem Wesen erblickt hatte. „Geh, Atakuela! Flüchte, sonst holt er auch dich!“ schrillte der<br />

alte Mann in panischem Entsetzen. Fast hätte ich seine Warnung befolgt. Ich starrte zum Fenster, und<br />

nun lag Panik auch in meiner Seele.<br />

Der Himmel war taghell erleuchtet von einem zuckenden Tanz blauer Blitze, die sich wie ein Geflecht<br />

ineinander verwoben, wie ein Spinnennetz oder zuckende Tentakel. Der ohrenbetäubende Donner war<br />

allgegenwärtig, aber durch das Tosen hindurch glaubte ich eine gewaltige befehlende Stimme zu<br />

hören, die nach Ludomill rief. Wie in Trance erhob er sich vom Bett und schritt auf das Fenster zu,<br />

das mir in diesem Augenblick vorkam wie das Tor zu einer anderen Welt. Das Tor auf die andere<br />

Seite der Nacht, wo der Flüsterer aus dem Abgrund haust. Er lief, obwohl er von der Hüfte abwärts<br />

gelähmt war, stolperte schwankend zu auf sein Verderben, die Augen quollen ihm fast aus den<br />

Höhlen, ich konnte seine Furcht förmllich riechen, sein Mund brabbelte und murmelte Worte des<br />

Wahnsinns. Ich wollte ihn festhalten, zurückziehen vom Fenster in den Untergang, aber er stieß mich<br />

mit einer solchen Kraft beiseite, daß ich wie eine Spielzeugpuppe zu Boden gewirbelt wurde und<br />

halbbetäubt liegenblieb. Ich sah einen sich schlängelnden schwarzen Tentakel, der durch das Fenster<br />

nach Ludomill Penhaligon tastete, ihn um die Hüfte umschlang und mit sich hinauszerrte in die

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