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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

Ein weiterer Tag in der trägen Zeitlosigkeit der Lyzeum. Den hatte sich mühsam mit Nurin’s Hilfe ins<br />

Erdgeschoß geschleppt. Für die Treppe zurück nach oben würde er wohl dreimal so lange brauchen,<br />

aber das war es ihm wert. Denn hier, in der untersten Etage, befand sich außer einem fest<br />

verschlossenen Zugang zu dem „offiziellen“ Teil der Lyzeum und ein paar leeren Zellen auch eine<br />

große, grüne Glasscheibe in der Außenwand des Turmes. Sie wußten beide, daß es nur hauchdünnes<br />

Glas war, jedoch durch Magie gegen jede Art von Tritten oder Hieben gesichert. Die Scheibe war<br />

außer einem Fenster auch gleichzeitig ein Seiteneingang der Lyzeum. Das Personal ging durch sie<br />

hindurch wie durch einen Wasserfall. Für alle anderen war das grüne Glas so solide wie eine Wand.<br />

Dort draußen lag das faulige <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, das von seinen Bewohnern oft genug als Gefängnis<br />

angesehen wurde. Doch für die beiden lag dort draußen die Freiheit. Jetzt saßen sie auf dem Boden<br />

vor dem Glas und betrachteten still und jeder für sich die Welt in Grün. „Liebst du die Menschen?“,<br />

brach Nurin das Schweigen. Die Frage war schwierig für Den und er zögerte lange mit einer Antwort.<br />

„Die meisten, glaube ich. Kann ja nicht alle lieben. Nicht die, die mein Volk jagen. Nicht die, die<br />

mich einsperrten. Aber ich liebe das Gute im Menschen. Was ihn dazu bewegt, sich an der Natur zu<br />

freuen. Sich zu paaren. Kinder großzuziehen. Und ...“, Den warf einen lächelnden Seitenblick auf den<br />

Barden „ ... und Freundschaften zu schließen.“ - „Eine lange Rede für dich.“, meinte Nurin. „Aber<br />

welchen Sinn macht das alles, wenn jeder Mensch, dem du begegnest, dich nur ausnutzt, dich betrügt<br />

und hintergeht? Wo sind denn die ach so guten Menschen, von denen du redest? Hier vielleicht? In<br />

dieser Stadt der reichen Schweine und ausgehungerten Ratten? Ich weiß nicht, ich kann nicht mehr<br />

lieben, nur noch bedauern. Ich blicke umher und sehe überall gescheiterte Existenzen. Menschen, die<br />

ehemals glücklich waren. Von mir aus auch liebenswert. Aber dann packt sie das Schicksal, reißt sie<br />

heraus aus ihrer Sicherheit und schleudert sie in den Abgrund. Sei es ein lang anhaltender Regen, der<br />

dem Bauern die einzige Ernte verdirbt, so daß er gezwungen ist, all seine Kinder als Sklaven nach<br />

Multorien zu schicken. Sei es die Ermordung des geliebten Vaters durch einen gedungenen Mörder,<br />

die den Sohn zu einem hungrigen Dieb macht und ihn schließlich einen schnellen Tod auf der Straße<br />

finden läßt. Oder die Mitteilung, kurz vor dem größten Moment deines Lebens, daß ...“, Nurin brach<br />

ab und starrte ins Leere. Dann fuhr er mit wiedererstarkter Stimme fort: „Was passiert mit diesen<br />

Menschen? Sie verlieren alle Hoffnungen. Und all ihre Würde. Sie werden selbst zu Mördern, Dieben,<br />

haßerfüllten Rächern, die ihr eigenes Schicksal wiederum an Andere weitergeben. Und deren Opfer<br />

wieder an die Nächsten. Nennst du das eine gerechte Welt? Oder sie resignieren. Werden zu Bettlern,<br />

Süchtigen, leichten Opfern, an denen die Starken dieser Welt im Vorbeigehen ein neues Schwert<br />

testen. Nennst du das liebenswert? Wo, mein Freund, sind denn die Helden des alltäglichen Lebens,<br />

die du so herbeibeschwörst?“ - „Weiß nicht.“, sagte Den leise. „Vielleicht genau hier. Du, du hast<br />

schließlich deine Würde nicht verloren.“ - „Ich versuche es, Den, mit aller Macht versuche ich sie zu<br />

bewahren. Aber ich glaube, das kann ich nur tun, weil ich hier bin. Ich hätte Angst vor einem Nurin,<br />

der da draußen, hinter dieser Scheibe um sein Leben kämpfen müßte. Was wäre ich geworden: Nurin,<br />

der schreckliche Barde? Der einsame Rächer mit einem tödlichen Lied auf den Lippen? Oder Nurin<br />

der Traurige, der für eine zugeworfene Eisensonne mit inzwischen brüchiger Stimme eine Arie aus<br />

alten Zeiten darbietet? Hier: ein melancholische Lied für euch Huren! Und nun: ein Spottvers für die<br />

Straßenkinder! Oh, der Herr Wachhabende! Für Euch ein Heldenlied? Nein danke!“<br />

Den wußte nicht, was er darauf antworten sollte.<br />

Nach zwei Wochen der Gefangenschaft hatte es sich Den zur Gewohnheit gemacht, täglich eine<br />

Runde durch sein Stockwerk zu absolvieren und dabei seine Freunde zu besuchen. Den Aufsehern<br />

war das egal. Sie schienen inzwischen alles Interesse verloren zu haben, nur selten ließen sie sich<br />

blicken. Einer, der zu schwach war mehr als hundert Schritt zu tun, eine zufriedene Gefesselte, ein<br />

Melancholiker mit Phobie vor der Außenwelt und eine Spinnerin: Wohin hätten die Vier schon gehen<br />

können? An diesem Nachmittag war Den bei Cathjana „zu Gast“. Seit ihrem ersten Gespräch wußte<br />

Den nicht viel mit ihr anzufangen, aber er hoffte, daß allein seine Anwesenheit ihr möglicherweise<br />

etwas Trost spendete. Zumeist setzte er sich auf den Boden, blickte von ihr weg um die Fesseln nicht<br />

sehen zu müssen und redete vor sich hin, sinnierte über die Welt. In der Regel starrte die<br />

ausgemergelte Frau dabei nur an die Decke und schien ihn kaum zu bemerken.<br />

Doch heute war ein schlimmer Tag und Den redete nicht über die Welt an sich: „Ich werde sterben,<br />

Cathjana. Bald. Kann’s fühlen, ich bin am Ende. Gefangenschaft, das ist das Übelste. Keine Ehre,<br />

verstehst du? Kein ruhmreicher Tod im Kampf. Nicht ‘mal opfern woll’n sie mich. Ich werd’ mich<br />

heut abend ganz einfach hinlegen und zur Neige gehen wie ein Faß. Das war’s. Nie wieder Berge oder

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