Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />
Ein weiterer Tag in der trägen Zeitlosigkeit der Lyzeum. Den hatte sich mühsam mit Nurin’s Hilfe ins<br />
Erdgeschoß geschleppt. Für die Treppe zurück nach oben würde er wohl dreimal so lange brauchen,<br />
aber das war es ihm wert. Denn hier, in der untersten Etage, befand sich außer einem fest<br />
verschlossenen Zugang zu dem „offiziellen“ Teil der Lyzeum und ein paar leeren Zellen auch eine<br />
große, grüne Glasscheibe in der Außenwand des Turmes. Sie wußten beide, daß es nur hauchdünnes<br />
Glas war, jedoch durch Magie gegen jede Art von Tritten oder Hieben gesichert. Die Scheibe war<br />
außer einem Fenster auch gleichzeitig ein Seiteneingang der Lyzeum. Das Personal ging durch sie<br />
hindurch wie durch einen Wasserfall. Für alle anderen war das grüne Glas so solide wie eine Wand.<br />
Dort draußen lag das faulige <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, das von seinen Bewohnern oft genug als Gefängnis<br />
angesehen wurde. Doch für die beiden lag dort draußen die Freiheit. Jetzt saßen sie auf dem Boden<br />
vor dem Glas und betrachteten still und jeder für sich die Welt in Grün. „Liebst du die Menschen?“,<br />
brach Nurin das Schweigen. Die Frage war schwierig für Den und er zögerte lange mit einer Antwort.<br />
„Die meisten, glaube ich. Kann ja nicht alle lieben. Nicht die, die mein Volk jagen. Nicht die, die<br />
mich einsperrten. Aber ich liebe das Gute im Menschen. Was ihn dazu bewegt, sich an der Natur zu<br />
freuen. Sich zu paaren. Kinder großzuziehen. Und ...“, Den warf einen lächelnden Seitenblick auf den<br />
Barden „ ... und Freundschaften zu schließen.“ - „Eine lange Rede für dich.“, meinte Nurin. „Aber<br />
welchen Sinn macht das alles, wenn jeder Mensch, dem du begegnest, dich nur ausnutzt, dich betrügt<br />
und hintergeht? Wo sind denn die ach so guten Menschen, von denen du redest? Hier vielleicht? In<br />
dieser Stadt der reichen Schweine und ausgehungerten Ratten? Ich weiß nicht, ich kann nicht mehr<br />
lieben, nur noch bedauern. Ich blicke umher und sehe überall gescheiterte Existenzen. Menschen, die<br />
ehemals glücklich waren. Von mir aus auch liebenswert. Aber dann packt sie das Schicksal, reißt sie<br />
heraus aus ihrer Sicherheit und schleudert sie in den Abgrund. Sei es ein lang anhaltender Regen, der<br />
dem Bauern die einzige Ernte verdirbt, so daß er gezwungen ist, all seine Kinder als Sklaven nach<br />
Multorien zu schicken. Sei es die Ermordung des geliebten Vaters durch einen gedungenen Mörder,<br />
die den Sohn zu einem hungrigen Dieb macht und ihn schließlich einen schnellen Tod auf der Straße<br />
finden läßt. Oder die Mitteilung, kurz vor dem größten Moment deines Lebens, daß ...“, Nurin brach<br />
ab und starrte ins Leere. Dann fuhr er mit wiedererstarkter Stimme fort: „Was passiert mit diesen<br />
Menschen? Sie verlieren alle Hoffnungen. Und all ihre Würde. Sie werden selbst zu Mördern, Dieben,<br />
haßerfüllten Rächern, die ihr eigenes Schicksal wiederum an Andere weitergeben. Und deren Opfer<br />
wieder an die Nächsten. Nennst du das eine gerechte Welt? Oder sie resignieren. Werden zu Bettlern,<br />
Süchtigen, leichten Opfern, an denen die Starken dieser Welt im Vorbeigehen ein neues Schwert<br />
testen. Nennst du das liebenswert? Wo, mein Freund, sind denn die Helden des alltäglichen Lebens,<br />
die du so herbeibeschwörst?“ - „Weiß nicht.“, sagte Den leise. „Vielleicht genau hier. Du, du hast<br />
schließlich deine Würde nicht verloren.“ - „Ich versuche es, Den, mit aller Macht versuche ich sie zu<br />
bewahren. Aber ich glaube, das kann ich nur tun, weil ich hier bin. Ich hätte Angst vor einem Nurin,<br />
der da draußen, hinter dieser Scheibe um sein Leben kämpfen müßte. Was wäre ich geworden: Nurin,<br />
der schreckliche Barde? Der einsame Rächer mit einem tödlichen Lied auf den Lippen? Oder Nurin<br />
der Traurige, der für eine zugeworfene Eisensonne mit inzwischen brüchiger Stimme eine Arie aus<br />
alten Zeiten darbietet? Hier: ein melancholische Lied für euch Huren! Und nun: ein Spottvers für die<br />
Straßenkinder! Oh, der Herr Wachhabende! Für Euch ein Heldenlied? Nein danke!“<br />
Den wußte nicht, was er darauf antworten sollte.<br />
Nach zwei Wochen der Gefangenschaft hatte es sich Den zur Gewohnheit gemacht, täglich eine<br />
Runde durch sein Stockwerk zu absolvieren und dabei seine Freunde zu besuchen. Den Aufsehern<br />
war das egal. Sie schienen inzwischen alles Interesse verloren zu haben, nur selten ließen sie sich<br />
blicken. Einer, der zu schwach war mehr als hundert Schritt zu tun, eine zufriedene Gefesselte, ein<br />
Melancholiker mit Phobie vor der Außenwelt und eine Spinnerin: Wohin hätten die Vier schon gehen<br />
können? An diesem Nachmittag war Den bei Cathjana „zu Gast“. Seit ihrem ersten Gespräch wußte<br />
Den nicht viel mit ihr anzufangen, aber er hoffte, daß allein seine Anwesenheit ihr möglicherweise<br />
etwas Trost spendete. Zumeist setzte er sich auf den Boden, blickte von ihr weg um die Fesseln nicht<br />
sehen zu müssen und redete vor sich hin, sinnierte über die Welt. In der Regel starrte die<br />
ausgemergelte Frau dabei nur an die Decke und schien ihn kaum zu bemerken.<br />
Doch heute war ein schlimmer Tag und Den redete nicht über die Welt an sich: „Ich werde sterben,<br />
Cathjana. Bald. Kann’s fühlen, ich bin am Ende. Gefangenschaft, das ist das Übelste. Keine Ehre,<br />
verstehst du? Kein ruhmreicher Tod im Kampf. Nicht ‘mal opfern woll’n sie mich. Ich werd’ mich<br />
heut abend ganz einfach hinlegen und zur Neige gehen wie ein Faß. Das war’s. Nie wieder Berge oder