Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />
vom Zentralplatz weg und kam nicht ganz zwei Minuten später mit einem Mann zurück. Dieser sah<br />
aus wie eine ältere Version von Torg - und war, wie sich bewahrheiten sollte, dessen Vater.<br />
Er trat in den Kreis und betrachtete mich eingehend, prüfend. Nicht, wie manche menschlichen Kerle<br />
einen mit den Blicken ausziehen, sondern eher aus absolut ehrlichem und offenem Interesse. Nachdem<br />
er mich so gemustert hatte, setzte er sich vor mich im Schneidersitz hin. Ich tat es ihm gleich, und wie<br />
wir uns gegenüber saßen, musterte er mich erneut, als wolle er nur durch Blickkontakt herausfinden,<br />
was er von mir zu halten hatte. Ich imitierte sein Gebaren, indem ich ihn meinerseits eingehend<br />
studierte. Abgesehen von den schon beschriebenen Äußerlichkeiten, die schon seinen Sohn<br />
kennzeichneten besaß er tiefgrüne Augen, hohe Wangenknochen und einen Schnauz- und einen<br />
Kinnbart, die ihm etwas verwegenes verliehen, ihn aber gleichzeitig mit seinem restlichen Äußeren<br />
und seiner Haltung aristokratisch wirken ließen. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er. Dabei<br />
konnte ich erkennen, daß dieser Mann es war, von dem Torg sein Lächeln hatte. Er ergriff meine<br />
rechte Hand und massierte sie leicht, strich mit den Fingerspitzen über meine Handfläche und die<br />
Innenseite der Finger, daß mir Schauer über den Rücken liefen. Diese großen und offenbar starken<br />
Hände besaßen die Leichtigkeit eines Schmetterlingsflügels. Dann zeigte er auf mein Schwert, und als<br />
ich die Arme anhob, zog er es aus der Scheide. Nachdem er auch dieses begutachtet hatte, nickte er<br />
zufrieden und gab es mir zurück.<br />
Währenddessen war neben uns Holz aufgeschichtet und angezündet worden. Wie auf ein geheimes<br />
Signal hin trat aus dem kleinen Zelt, in welches Torg gebracht worden war, eine alte Frau mit langem,<br />
fast bis zum Boden reichendem weißem Haar und auf einen knorrigen Stock gestützt. Der Stock war<br />
aber offenbar mehr Accessoire als Notwendigkeit, denn sie bewegte sich mit einer geradezu<br />
jugendlichen Eleganz. Sie stellte sich hinter meinen Gegenüber, beugte sich zu ihm hinunter und<br />
flüsterte ihm etwas zu. Daraufhin erhob er sich und ging in das kleine Zelt, während die Frau seinen<br />
Platz mir gegenüber einnahm. Sie deutete mit dem Zeige- und dem Mittelfinger ihrer linken Hand auf<br />
ihre Augen und bewegte die Fingerspitzen nach unten. Ich schloß meine Augen und fühlte sogleich,<br />
wie zwei Hände meine Schläfen berührten. Zuerst gab es in meinem Kopf eine Art Blitz, und ich<br />
schreckte zurück. Doch dann überließ ich mich der alten Frau. Eigentlich hätte ich ja wahrscheinlich<br />
Angst haben müssen, aber irgendwie wußte ich, mir würde kein Leid geschehen. Ich spürte, wie der<br />
Geist der Alten in mich drang, und ich hatte auf einmal das Gefühl, mit der Frau allein auf einer<br />
weiten, schneebedeckten Hochebene zu sitzen, über uns nur der Himmel.<br />
‘Habe keine Angst, mein Mädchen’ sagte sie, und obwohl ich wußte, die Sprache nie zuvor gehört zu<br />
haben, verstand ich sie auf Anhieb.<br />
‘Du bist jetzt bei den Molekkai, einem Stamm vom großen Volke der Kai. Ich weiß von Torg, was<br />
passiert ist, und heiße dich als Freundin willkommen. Auch Torrik, Torgs Vater, ist offenbar sehr<br />
beeindruckt von dir. Er war, wie du wahrscheinlich schon vermutest, der Mann, der dir eben noch<br />
gegenüber saß.’ Ich fragte, wie ich sie auf einmal verstehen könnte und wo wir denn überhaupt wären,<br />
denn trotz der Kälte, die ganz offensichtlich an diesem Ort herrschte, fror ich nicht im Geringsten.“<br />
Zhoreena’s Ohren hatten bei diesen Worten zumindest im übertragenen Sinne die Ausmaße von<br />
Rhabarberblättern angenommen, und Caerlissa lauschte auch sehr fasziniert. Sogar die sonst extrem<br />
lebhafte und zu Unterbrechungen neigenden Lianna hörte gebannt zu. Jakla kannte die groben Züge<br />
dieser Geschichte zwar schon durch Torg, der in der Tat rund ein Jahr zuvor bei ihr zu Besuch<br />
gewesen war. Aber dennoch war sie teils gefesselt, teils erschrocken, diese ihr bisher unbekannten<br />
Facetten der Geschichte zu erfahren. Und so hütete auch sie sich, Leandra zu unterbrechen. Der alte<br />
Wingart saß nur da, scheinbar ungerührt, obwohl auch seine Ohren allmählich zu wachsen schienen.<br />
Leandra fuhr fort: „‘Wir sind hier in der Geisterwelt, auf der Ebene der Klarheit. An diesem Ort<br />
frieren nur Lügner und Böse Kreaturen. Die anderen werden durch ihre Wahrhaftigkeit und<br />
Aufrichtigkeit gewärmt. Daß du mich verstehst, gehört zum einen zu den Gesetzen dieser Welt: Hier<br />
gibt es nur eine Sprache, die Sprache des Herzens. Zum anderen bin ich gerade dabei, deinem<br />
Bewußtsein unsere Sprache einzugliedern. Wenn du hier bleibst - was man nebenbei von dir erwarten<br />
wird, zumindest für die nächsten drei Monde - wirst du unsere Sprache kennen müssen’ Daraufhin<br />
zog sich die Frau wieder aus meinem Geist zurück, und ich erwachte wie aus einer Trance.<br />
Inzwischen war es abend geworden, mehrere Feuer brannten ringsum her, und es duftete bereits nach<br />
frisch geröstetem Fleisch. Torg war wieder auf den Beinen und ließ es sich nicht nehmen, mich<br />
persönlich zu bedienen. Anschließend setzten er und Torrik sich zu mir, und da ich das Kai durch die