15.11.2012 Aufrufe

Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

vom Zentralplatz weg und kam nicht ganz zwei Minuten später mit einem Mann zurück. Dieser sah<br />

aus wie eine ältere Version von Torg - und war, wie sich bewahrheiten sollte, dessen Vater.<br />

Er trat in den Kreis und betrachtete mich eingehend, prüfend. Nicht, wie manche menschlichen Kerle<br />

einen mit den Blicken ausziehen, sondern eher aus absolut ehrlichem und offenem Interesse. Nachdem<br />

er mich so gemustert hatte, setzte er sich vor mich im Schneidersitz hin. Ich tat es ihm gleich, und wie<br />

wir uns gegenüber saßen, musterte er mich erneut, als wolle er nur durch Blickkontakt herausfinden,<br />

was er von mir zu halten hatte. Ich imitierte sein Gebaren, indem ich ihn meinerseits eingehend<br />

studierte. Abgesehen von den schon beschriebenen Äußerlichkeiten, die schon seinen Sohn<br />

kennzeichneten besaß er tiefgrüne Augen, hohe Wangenknochen und einen Schnauz- und einen<br />

Kinnbart, die ihm etwas verwegenes verliehen, ihn aber gleichzeitig mit seinem restlichen Äußeren<br />

und seiner Haltung aristokratisch wirken ließen. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er. Dabei<br />

konnte ich erkennen, daß dieser Mann es war, von dem Torg sein Lächeln hatte. Er ergriff meine<br />

rechte Hand und massierte sie leicht, strich mit den Fingerspitzen über meine Handfläche und die<br />

Innenseite der Finger, daß mir Schauer über den Rücken liefen. Diese großen und offenbar starken<br />

Hände besaßen die Leichtigkeit eines Schmetterlingsflügels. Dann zeigte er auf mein Schwert, und als<br />

ich die Arme anhob, zog er es aus der Scheide. Nachdem er auch dieses begutachtet hatte, nickte er<br />

zufrieden und gab es mir zurück.<br />

Währenddessen war neben uns Holz aufgeschichtet und angezündet worden. Wie auf ein geheimes<br />

Signal hin trat aus dem kleinen Zelt, in welches Torg gebracht worden war, eine alte Frau mit langem,<br />

fast bis zum Boden reichendem weißem Haar und auf einen knorrigen Stock gestützt. Der Stock war<br />

aber offenbar mehr Accessoire als Notwendigkeit, denn sie bewegte sich mit einer geradezu<br />

jugendlichen Eleganz. Sie stellte sich hinter meinen Gegenüber, beugte sich zu ihm hinunter und<br />

flüsterte ihm etwas zu. Daraufhin erhob er sich und ging in das kleine Zelt, während die Frau seinen<br />

Platz mir gegenüber einnahm. Sie deutete mit dem Zeige- und dem Mittelfinger ihrer linken Hand auf<br />

ihre Augen und bewegte die Fingerspitzen nach unten. Ich schloß meine Augen und fühlte sogleich,<br />

wie zwei Hände meine Schläfen berührten. Zuerst gab es in meinem Kopf eine Art Blitz, und ich<br />

schreckte zurück. Doch dann überließ ich mich der alten Frau. Eigentlich hätte ich ja wahrscheinlich<br />

Angst haben müssen, aber irgendwie wußte ich, mir würde kein Leid geschehen. Ich spürte, wie der<br />

Geist der Alten in mich drang, und ich hatte auf einmal das Gefühl, mit der Frau allein auf einer<br />

weiten, schneebedeckten Hochebene zu sitzen, über uns nur der Himmel.<br />

‘Habe keine Angst, mein Mädchen’ sagte sie, und obwohl ich wußte, die Sprache nie zuvor gehört zu<br />

haben, verstand ich sie auf Anhieb.<br />

‘Du bist jetzt bei den Molekkai, einem Stamm vom großen Volke der Kai. Ich weiß von Torg, was<br />

passiert ist, und heiße dich als Freundin willkommen. Auch Torrik, Torgs Vater, ist offenbar sehr<br />

beeindruckt von dir. Er war, wie du wahrscheinlich schon vermutest, der Mann, der dir eben noch<br />

gegenüber saß.’ Ich fragte, wie ich sie auf einmal verstehen könnte und wo wir denn überhaupt wären,<br />

denn trotz der Kälte, die ganz offensichtlich an diesem Ort herrschte, fror ich nicht im Geringsten.“<br />

Zhoreena’s Ohren hatten bei diesen Worten zumindest im übertragenen Sinne die Ausmaße von<br />

Rhabarberblättern angenommen, und Caerlissa lauschte auch sehr fasziniert. Sogar die sonst extrem<br />

lebhafte und zu Unterbrechungen neigenden Lianna hörte gebannt zu. Jakla kannte die groben Züge<br />

dieser Geschichte zwar schon durch Torg, der in der Tat rund ein Jahr zuvor bei ihr zu Besuch<br />

gewesen war. Aber dennoch war sie teils gefesselt, teils erschrocken, diese ihr bisher unbekannten<br />

Facetten der Geschichte zu erfahren. Und so hütete auch sie sich, Leandra zu unterbrechen. Der alte<br />

Wingart saß nur da, scheinbar ungerührt, obwohl auch seine Ohren allmählich zu wachsen schienen.<br />

Leandra fuhr fort: „‘Wir sind hier in der Geisterwelt, auf der Ebene der Klarheit. An diesem Ort<br />

frieren nur Lügner und Böse Kreaturen. Die anderen werden durch ihre Wahrhaftigkeit und<br />

Aufrichtigkeit gewärmt. Daß du mich verstehst, gehört zum einen zu den Gesetzen dieser Welt: Hier<br />

gibt es nur eine Sprache, die Sprache des Herzens. Zum anderen bin ich gerade dabei, deinem<br />

Bewußtsein unsere Sprache einzugliedern. Wenn du hier bleibst - was man nebenbei von dir erwarten<br />

wird, zumindest für die nächsten drei Monde - wirst du unsere Sprache kennen müssen’ Daraufhin<br />

zog sich die Frau wieder aus meinem Geist zurück, und ich erwachte wie aus einer Trance.<br />

Inzwischen war es abend geworden, mehrere Feuer brannten ringsum her, und es duftete bereits nach<br />

frisch geröstetem Fleisch. Torg war wieder auf den Beinen und ließ es sich nicht nehmen, mich<br />

persönlich zu bedienen. Anschließend setzten er und Torrik sich zu mir, und da ich das Kai durch die

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!