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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Die Gelehrte setzte sich ganz auf und ballte die Hände zu Fäusten. Einen Augenblick wallte Wut in<br />

ihr hoch - der ganze Haß auf die mißratene Tochter, die Mörderin, aber dann erlosch die Flamme<br />

dieser Gefühle mit einem Mal und hinterließ nur Leere. Sie schüttelte müde den Kopf. Später - jetzt<br />

bereiteten ihr andere Dinge Sorgen. „Was ist geschehen?“ fragte sie, wieder ganz Gelehrte.<br />

Aziareya rieb über eine verschorfte Wunde an ihrem Handgelenk und gab bereitwillig Antwort: „Ich<br />

weiß es auch nicht. Draußen ist noch immer Nacht, obgleich es schon längst hätte Tag sein müssen.<br />

Ich weiß nur, daß ich ... für Augenblicke so benommen war, daß mein Geliebter aus meinem Armen<br />

verschwand, ohne sich aus der Verschlungenheit unserer Körper zu lösen ... Ich bin durch die Straßen<br />

geirrt, als ich keinen mehr in der Stube fand ... Viele der Häuser waren leer, aber hier sind noch Menschen.<br />

Ich habe einen fliehen sehen - vor einer wabernden Masse. Wir sind nicht allein ... da sind<br />

Schatten, die lebendig werden und sich von ihren Besitzern lösen ... glühende Augen, die mich<br />

ansahen, Krallen aus dem Nichts, die sich in meine Haut gruben ... Es ist besser wegzulaufen ...<br />

kletterte auf Dachterrasse, aber da schlug mir etwas in den Rücken ... Kraft floß in mich, schlug nach<br />

dem Maul ... Dann zu dir. Ich glaube zu ersticken, und sah dann auch, warum. Du ... „ Ailanth sah,<br />

wie Aziareya sich krümmte und streckte zögernd die Hand aus. Ihre Tochter sah sie nur an und rührte<br />

sich nicht. So schob sie das Haar beiseite. „Die Wunden sehen übel aus. Wir werden sie verarzten<br />

müssen!“ Dann lächelte sie traurig. „Unter anderen Umständen hätte ich über deine Wunden gelacht,<br />

jetzt ...“<br />

„Schhht!“ unterbrach sie ihre Tochter heftig, als wolle sie von diesem ungeliebten Thema ablenken.<br />

„Hörst du das. Es ist still geworden“, stieß sie hervor.<br />

Ailanth horchte auf. Aziareya hatte recht. Von jenseits der Türen war kein Laut zu hören. Was auch<br />

immer das zu bedeuten hatte ... gutes oder schlechtes - hier konnten sie auf Dauer nicht bleiben, auf<br />

dem kalten Steinboden.<br />

Die Gelehrte schloß die Augen. Langsam beruhigte sie ihren Geist und tat das, weswegen man sie in<br />

ihrer Heimat auch Seherin genannt hatte: Sie spürte die Umgebung um sich herum und stöhnte, als sie<br />

glaubte, in brennendes Feuer gehüllt zu werden. Aber das, wonach sie suchte, war nicht mehr in der<br />

Nähe, hatte sich längst anderen Orten zugewandt. Rasch löste sie sich aus ihrer Meditation und blickte<br />

erstaunt auf Aziareya, die kalkweiß geworden war. „Tu das nie wieder - Mutter! Du bringst mich<br />

damit um!“<br />

���<br />

Schließlich waren alle Türen, Fenster, Öffnungen so fest verschlossen oder gesichert, daß kein<br />

fremdartiges Wesen mehr in das Untergeschoß eindringen konnte. Ailanth zog nun auch den letzten<br />

Vorhang zurück, weil sie eine mögliche Gefahr lieber sehen wollte und starrte durch das<br />

Kristallfenster, das sie ein Vermögen gekostet hatte in den Garten. Noch immer war es Nacht,<br />

obgleich sie Stunden gebraucht hatte, um Aziareyas Wunden zu verarzten und die unteren Räume zu<br />

schützen. Nun lag das Mädchen auf dem Divan und schlief. Auch Ailanth fühlte sich müde, aber sie<br />

konnte und wollte nicht ausruhen. Immer wieder konnte so etwas geschehen, wie in Rhysians Zimmer.<br />

Ein Frösteln überkam sie, als sie daran dachte. „Mirtanh!“ murmelte sie und schloß die Augen, dachte<br />

voller Grauen an das Wesen, daß ihn so täuschend dargestellt hatte, um sie zu verführen - und ihr die<br />

Lebenskraft zu rauben.<br />

Er war so täuschend echt gewesen. Seine Augen - sein Blick, alles an ihm war der Geliebte gewesen<br />

... Konnte es nicht sein, daß dieses Geschöpf, so tief in ihre Erinnerungen gegriffen hatte, daß sie ein<br />

wahres Abbild vor sich gesehen hatte.<br />

Ailanth zuckte plötzlich zusammen, als sie an das seltsame Glitzern in seinen Augen dachte und<br />

blickte unwillkürlich auf ihre Tochter - die aus welchen Gründen auch immer gekommen war, um ihr<br />

zu helfen. Zwar hatte sie im Halbschlaf etwas von „Verbindung“ gemurmelt, und daß sie „hatte mit<br />

ihr reden wollen“, aber genaueres würde sie erst erfahren, wenn es Aziareya besser ging.<br />

Ailanth seufzte. Vielleicht hatte das Schicksal es gerade so gefügt, daß sie in dieser unerklärlich<br />

langen Nacht zueinandergefunden hatten: Wenn sie 'reya auch noch immer nicht verzeihen konnte,<br />

mittlerweile war sie wenigstens bereit, ihre Tochter anzuhören, ohne den Dolch bereitzuhalten.<br />

„Es wäre auch mein Tod gewesen“, murmelte sie in den Raum.<br />

Sie stand auf und trat näher an das Kristallfenster heran. Von hier unten aus konnte sie nur wenig<br />

Himmel sehen, aber sie sah Sterne blitzen, nur dann und wann verschwammen sie hinter schwarzem

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