Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />
Wenn alles gut ging, würde er heute noch exzessiven Gebrauch von der Hohen Kunst machen, und<br />
er brauchte alle Konzentration, die er aufbringen konnte. Über die Jahre hinweg waren, so<br />
fürchtete er, seine magischen Fähigkeiten wohl ein wenig angerostet.<br />
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Die Krähen, die Lyrs Haus aufsuchten und sie mit dem mittlerweile schmerzhaft bekannten,<br />
unerträglichen Geschrei aus dem Schlaf rissen, flatterten diesmal besonders aufgeregt vor dem Gitter<br />
ihres Fensters herum. Drinnen sahen sie einen der ihren - einen kleinen Vogel mit<br />
scharfgeschnittenen, leicht angehobenen Flügeln und spitzem Schnabel, der auf dem kleinen<br />
Schemel in dem Zimmer saß und seit Stunden dabei war, abzuheben, um sich in die Lüfte zu<br />
schwingen und seine Artgenossen auf ihrer herbstlichen Wanderung zu begleiten.<br />
Aber etwas wichtiges schien er falsch zu machen, denn er verharrte völlig reglos in der instabilen<br />
Haltung und machte keine Anstalten, den Vorgang des Abflugs zu Ende zu bringen.<br />
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Zum erstenmal seit vielen Jahren gingen dem Einzelnen wieder die Lehren Isagars des<br />
Weißhaarigen durch den Sinn:<br />
Bist du im Dunkeln, verwandelst du oft das Antlitz der Menschen,<br />
Zwingst du die Tiere und hörst nicht das Flehn aller Wesen, dann werden<br />
Jene müssen; Bist du jedoch im Hellen, gebrauchst<br />
Alle Kräfte der Hohen Kunst zum Sehn und zum Wandern,<br />
Darfst du. So ist der Lauf der Welt, und so ist<br />
Deine Entscheidung. Die Welt aber, sie braucht gleichmäßig<br />
dunkle Monde und helles Licht von der Sonne, um zu bestehen.<br />
Er war also im Dunkeln; denn im Dunkeln lag die Macht, und Macht war die einzige Sicherheit.<br />
Wenn der Mensch Macht besaß, war er kein Opfer, nicht Objekt, sondern Subjekt; das Geschehen<br />
ging von ihm aus, er hatte die Initiative. Diese Freiheit war Grundzug des Menschen; wenn er sie<br />
verlor oder auch nur ein Stückchen davon aufgab, verlor er das Menschliche in sich selbst und<br />
wurde zum Sklaven der Umwelt.<br />
Nachdem er diesem Gedankengang, wie schon so oft in seinem Leben, bis zum bitteren Ende<br />
gefolgt war, reinigte er seinen Sinn von allen Gefühlen und sperrte jede Ablenkung aus. Als er<br />
vollkommen ruhig geworden war, ging er zu einem großen Beutel in einer Ecke der Höhle im Stein<br />
und entnahm ihm eine kleine Flasche, die anscheinend mit schwarzem Rauch gefüllt war.<br />
Vorsichtig hob er eine Hand an den Verschluß und zog.<br />
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Als Manyr sein Haus verließ, flatterte ein großer Krähenschwarm vor seiner Tür auf, der dort im<br />
Boden herumgepickt und die Straße mit Beschlag belegt hatte. Ein paar Mal mußte der alte gebeugte<br />
Schreiber mit seinen dünnen Armen wild in der Luft herumrudern, bis ihn die großen dunklen Vögel<br />
in Ruhe ließen.<br />
Plötzlich hörte er einen ungewohnten Laut zwischen dem Gekrächze und Gekreische. Ein Blick<br />
nach oben bestätigte seine Ohren: Dort vor den vereinzelten weißen Wolken zog ein verirrter Falke<br />
durch die Luft, ein dunkelgefiederter einzelner Bergfalke, wie Manyr ihn in seiner Jugend oft in<br />
der Nähe der Akademia beobachtet hatte. Ein Lächeln machte kurz auf seinem Gesicht Halt, bevor es<br />
wieder weiter mußte; der Schreiber mochte diese Vögel gerne leiden.<br />
Schließlich machte er sich auf den Weg zu Lyrs Schmiede.<br />
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„Es sieht schön aus.“<br />
„Ja, nicht wahr? Selbst mir gelingt nur selten eine Klinge von dieser Qualität.“ Lyr verdrehte kurz<br />
die Augen und hoffte, daß ihre Kundin es nicht bemerkte. Die Frau, eine Händlerin mittleren Alters,<br />
die wohl plötzlich beschlossen hatte, ihre Wagenzüge selbst gegen Räuber zu verteidigen, hatte<br />
offensichtlich keine Ahnung von Waffen.