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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Seine Verse sind sehr poetisch, manchmal überaus amüsant, und zeugen von einem tiefen Einblick in<br />

die menschliche Seele und Gefühlswelt. Ich habe inzwischen sowohl Liebesgedichte als auch<br />

teilweise sehr pointierte Satiren und Spottverse von ihm gelesen, die mich durchaus beeidnruckt<br />

haben. Er freute sich über mein Lob und schien förmlich aufzublühen. Seine Gesellschaft bei Tisch<br />

hält die Langeweile fern, und oft unterhält er die Runde mit Anekdoten oder amüsanten Geschichten.<br />

Störend erweist sich einzig der Umstand seines übermäßigen Alkoholkonsums bei den gemeinsamen<br />

Essen und dem darauffolgenden Plausch, andererseits erlebte ich ihn nie betrunken. Es ist<br />

erschreckend und höchst bedenklich, wieviel dieser Bursche verträgt!<br />

Ein weiterer angenehmer Gesprächspartner ist Ludomill Penhaligon, der ein Buchgeschäft in der<br />

Nähe der Pension betreibt. Er ist ein hagerer Mann, der die Mitte seines Lebens bereits überschritten<br />

hat und ebenso verstaubt und antiquiert wirkt wie die Bücher, die er verkauft, seine Anzüge sitzen<br />

schlecht und sind meistens völlig ausgeblichen, so daß die ursprüngliche Farbe kaum mehr zu<br />

erkennen ist, seinem wirren staubgrauen Haar würde die Bekanntschaft mit einem Kamm gut<br />

anstehen. Aber er ist außerordentlich gebildet, ein unglaubliches Wissen paart sich mit ruhiger,<br />

gelassener Weisheit. Ich mag normalerweise keine Männer, aber von Magister Penhaligon bin ich<br />

fasziniert (Nicht, daß ich mich in ihn verliebt hätte!).<br />

Meine Freundschaft mit Shivistri und Eolyn habe ich vertieft und empfinde im Umgang mit ihnen<br />

eine menschliche Wärme, die ich lange vermißt habe. Das Kleid, das Shivistri für mich angefertigt<br />

hat, ist übrigens wunderschön.<br />

29. Bri<br />

Shivistri ist sehr schweigsam und verschlossen. Heute abend aber hat sie mir zum ersten Mal etwas<br />

über sich erzählt. Es hat mit ihrer Religion zu tun, mit der Statuette des achtarmigen tanzenden Gottes,<br />

für die sie in einer abgeschiedenen Nische ihres Zimmers einen kleinen Altar errichtet hat und täglich<br />

Rauch- und Trankopfer darbringt. Gerne würde ich hier weiterschreiben, doch was Shivistri Srimavo<br />

mir berichtet, tat sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und ich bin keine Frau, die ihr Wort<br />

bricht. Ich werde schweigen, auch gegenüber meinem Tagebuch. Morgen werde ich ihr etwas über die<br />

Alte Heimat erzählen. Sie ist die beste Freundin, die ich je hatte.<br />

31. Bri<br />

Trotz all meiner Mühen gelang es mir nicht, die Veröffentlichung wenigstens einiger der Verse von<br />

Kestril Dimitri in die Wege zu leiten. Die reichen Männer <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s haben keinen Sinn für<br />

Poesie! Meinen Schülerinnen, denen ich bisweilen seine Gedichte vorlese, gefallen sie hingegen sehr<br />

gut. Leider hat sich Dimitri geweigert, mich einmal in das Internat zu begleiten und seine Verse selbst<br />

vorzutragen.<br />

38. Bri<br />

Shivistri begrüßt die aufgehende Sonne auf ihre eigene Weise. Ich habe ihr heute morgen, bevor ich<br />

ins Interbat ging, dabei zugesehen. Bei Einbruch des Tages vollführt sie im Innenhof der Pension<br />

Waffenübungen, die gleichzeitig die Funktion eines Rituals zu Ehren ihres achtarmigen Gottes<br />

erfüllen. Ihre Bewegungen entsprechen stets exakt einem von mehreren genau vorgezeichneten<br />

Abläufen; eine solche „Form“ dauert meistens etwa 10 Minuten. Als Waffen verwendet sie den Speer<br />

oder zwei kurze Stöcke, die sie beidhändig einsetzt. Ihr Kampfstil ähnelt einem rasch wirbelnden<br />

Tanz, ihre Bewgungen sind fließend und gleitend und von einer Schönheit, die mir ein seltsam flaues<br />

Gefühl im Magen verursacht. Shivistris Meisterschaft mit der Waffe ist einzigartig, ich weiß, daß sie<br />

besser ist als ich, und ich glaube, sie übertrifft sogar Vater.<br />

44. Bri<br />

Ich weiß nun, daß Eolyn und Shivistri ein Liebespaar sind. Am Anfang erschien mir das in höchstem<br />

Maße unmoralisch, aber andererseits, bei den Männern dieser Welt, wer kann es einer Frau dann<br />

verübeln, wenn sie sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt?<br />

13. Hamilé<br />

Mir ist inzwischen aufgefallen, daß meine letzten Eintragungen eigentlich nur noch von Shivistri<br />

Srimavo handeln. Wenn ich Shivistri sehe oder auch nur an sie denke, läuft es mir heiß und kalt den<br />

Rücken herunter. Bei Atuasi, ich fürchte, ich habe mich in sie verliebt...

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