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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

���<br />

Diesmal konnte der hölzerne Vogel nicht rechtzeitig aus weichen. Wie lange spitze Nadeln<br />

bohrte der dunkle Falke seine Krallen in den kleinen Krähenleib. Ein Holzflügel riß sich vom<br />

restlichen Körper los, schlug noch ein paar Mal und raste dann auf den Erdboden zu.<br />

Der Falke holte mit dem Kopf weit aus und begrub dann seinen Schnabel im Hals des anderen.<br />

Das schmerzhafte Kreischen verstummte.<br />

���<br />

Der Schreiber hatte unter verzweifeltem Krächzen einen Arm weit von sich geschleudert, jetzt<br />

winkelte er ihn wieder eng an seinen Körper an, verschlang seine Gliedmaßen ineinander. Tränen<br />

flossen über das blasse Gesicht mit den fest geschlossenen Augen, sickerten langsam bis zu dem<br />

Mund des Fiebernden herunter, aus dem ein schwaches Blutrinnsal quoll.<br />

Lyr rüttelte ihn an beiden Schultern, wußte nicht, womit sie es zu tun hatte und wie sie ihm helfen<br />

konnte. Das Erbstück, das er ihr entwendet hatte, war für den Augenblick völlig aus ihrem<br />

Gedächtnis verschwunden.<br />

Als sie an dem Alten zerrte und ihn wild hin und her schüttelte, verstummte das Kreischen<br />

plötzlich.<br />

���<br />

Die Diebesbeute war während des Kampfs aus dem Schnabel des Falken gefallen. Nachdem sein<br />

Gegner in der Mitte entzwei gebrochen und zur Erde hinabgesegelt war, flog der Raubvogel einen<br />

eleganten Bogen nach unten und hob das kostbare Stück wieder auf.<br />

Die Bruchstücke des Holzvogels ließ er auf dem Kies und Geröll des Gebirgsbodens liegen.<br />

���<br />

Manyr sank in Lyrs Händen nach hinten, ließ seinen Kopf rücklings fallen. Der Mund stand<br />

nun weit offen, Blut floß reichlich über sein Kinn. Die Augen blinzelten in einem fort, doch sonst<br />

regte sich kein Glied an dem Greis.<br />

���<br />

Der Falke hatte sein Ziel erreicht. Elegant flog er durch den engen Spalt im zusammengefallenen<br />

Höhleneingang und glitt durch den dunklen Gang, bis er den in den Boden gezeichneten Fünfstern<br />

erreichte.<br />

Der einzelne Mensch im Schneidersitz öffnete die Augen und grinste kurz. Er entkorkte die jetzt<br />

leere Flasche und hielt sie mit der Rechten über sich, die Linke streckte er geöffnet aus. Der Falke<br />

schrie kurz, dann ließ er das Artefakt in die offene Hand fallen.<br />

RES ANAR! rief der Einzelne, und noch im Flug wurden die Konturen des Vogels unscharf,<br />

verwandelte sich sein Körper in eine dunkle Wolke mit vagen Umrissen, bis nur noch dichter<br />

schwarzer Rauch übriggeblieben war, der wie von selbst in die Flasche glitt. Der Einzelne stöpselte<br />

sie rasch zu. Dann nahm er das Beutestück zwischen zwei Finger, hob es auf Augenhöhe<br />

und<br />

untersuchte es so genau, wie es der unruhige Schein der Kerzen zuließ. Langsam breitete sich ein<br />

Lächeln auf seinem Gesicht aus.<br />

III.<br />

Es waren zwei Tage vergangen, seit Manyr unter Krämpfen und von schrecklichen<br />

Schmerzensschreien begleitet in seinem Keller aufgewacht war, wo ihn Lyr erwartete. Jetzt<br />

brannte die Mittagssonne von den Berggipfeln auf den Rastplatz der beiden weit nördlich der Stadt<br />

herunter. Sie sprachen nicht miteinander, sondern waren jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.<br />

���

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