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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

sie niemals fort gewesen nahm eine jede ihren alten Sitzplatz an dem großen Tisch ein, der früher<br />

wohl einmal in einem Herrenhaus gestanden haben mußte. Wie als wären sie niemals fort gewesen<br />

nahm Jakla die Tonschalen, Holzlöffel und Becher für alle aus dem buntbemalten Regal, und wie als<br />

wären sie niemals fort gewesen hing das würzige Duftgemisch von Eintopf, frisch gebackenem Brot<br />

und getrockneten Kräutern in der Luft.<br />

Kaum eines der Mädchen, und erst recht nicht die immer vorlaute Lianna, konnte das Ende der<br />

Mahlzeit abwarten, und doch geduldeten sie sich. Aber sobald sich Wingart nach dem Essen sein<br />

obligatorisches Pfeifchen gestopft, und Jakla sich in den Schaukelstuhl gesetzt hatte, da begannen die<br />

Mädchen, von ihrer Reisezeit zu berichten. Und tatsächlich war es Lianna, die als erste zu erzählen<br />

begann...<br />

„Der Abschied von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> fiel mir ehrlich gesagt nicht allzu schwer. Anders war es da schon<br />

mit euch. Ich habe euch sehr vermißt in den letzten sechs Jahren. Aber ich schweife ab. Ich zog also<br />

los und schaute mir die Welt an. Mit der Zeit gefiel mir das Wanderleben, in dem mir die Talente, die<br />

ich mir hier aneignen konnte, sehr nützlich waren. Ich lebte von dem, was ich auf den Bauernhöfen<br />

am Rande des Weges stehlen konnte. Da ich als Waise, noch dazu als arme Waise, sowieso keine<br />

Chance gehabt hätte, irgendwo etwas vernünftiges zu lernen, perfektionierte ich meine<br />

Diebstahlstechniken.<br />

Nach einigen Monaten kam ich in Darista, im Multorischen Reich, an. Eine wirklich große Stadt. Ich<br />

war überrascht von den Massen von Menschen, die sich durch die Straßen wälzten. Später habe ich<br />

noch größere Städte gesehen, aber das war die erste wirklich große Stadt, die ich sah. Die<br />

verwinkelten Gassen, die großen Basare, die bunten Waren und das ständige geschäftige Treiben in<br />

den Straßen erstaunten mich. Gegen das hier war <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, selbst die Oberstadt, armselig.“<br />

Lianna machte eine kleine Pause um einen Schluck zu trinken und den Eindruck auf ihre Schwestern<br />

wirken zu lassen. Dann fuhr sie fort.<br />

„Eine Weile lang ging es mir recht gut, ich hatte meinen Spaß daran, die reichen Geldsäcke kräftig<br />

auszunehmen und mich später den jungen Männern der Stadt zu widmen.“ Zhoreenas dreistes Grinsen<br />

sagte eine Menge über diese Art der ‘Widmung’ aus. Auch Lianna grinste für einen Moment, bevor<br />

sie ihre Erklärung fortsetzte.<br />

„Wie dem auch sei, die Stadtwache dort war nicht nur zahlreicher, sondern auch besser organisiert<br />

und trainiert als die hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. So fand ich mich eines Tages mit brummendem Schädel<br />

und einem kräftigen Bluterguß an der Schläfe in den städtischen Kerkern wieder. Genaugenommen<br />

wurde ich an den Schultern geschüttelt und jemand sagte: ‘Wach’ auf, Mädchen, wir müssen gehen!’<br />

Ich brauchte einige Momente, um mich zu orientieren. Als ich dann aufblickte war ich sofort<br />

verloren.“ Liannas Augen nahmen einen schwärmerischen Glanz an. Zho feixte offen, Leandra und<br />

Caerlissa begnügten sich damit, nachsichtig zu lächeln. Nur Jakla machte einen nachdenklichen<br />

Eindruck.<br />

„Die tiefblauesten Augen, die ich euch vorstellen könnt, ein ebenmäßiges, freundliches Gesicht mit<br />

Lachfältchen um die Augen und schulterlanges, strohblondes Haar. Er war eines der hohen Tiere in<br />

der Diebesgilde der Stadt und in das Gefängnis geschleust worden, um einen Ausbruch zu<br />

organisieren. In der Zeit, in der ich bewußtlos war, waren die Vorbereitungen schon getroffen worden.<br />

Die Wachen waren bestochen oder tot, der Fluchtweg war abgesichert und alles lief reibungslos. Wir<br />

wurden in ein Haus gebracht, das dem Gildenhochmeister gehörte. Dort kümmerte man sich um die<br />

riesige Beule an meinem Kopf und erklärte mir das System der Gilde.<br />

Die Diebe, Beutelschneider und Räuber der Stadt treten regelmäßig einen Teil ihres ‘Einkommens’ an<br />

die Gilde ab, die, im Gegenzug, dafür sorgt, daß Leute, die gefaßt werden, wieder auf freien Fuß<br />

kommen. Das geschieht teilweise durch Bestechung, teils durch Gewaltmaßnahmen. Außerdem sorgte<br />

die Gilde dafür, daß die Leute gleichmäßig über die Stadt verteilt wurden und sich nicht gegenseitig<br />

Konkurrenz machten.<br />

Später gab es etwas zu essen und ich wurde offiziell in die Gilde der Diebe und Beutelschneider von<br />

Darista aufgenommen.<br />

Noch am selben Abend begann ich, Jagd auf meinen blonden Prinzen zu machen. Mit der<br />

Mitleidsmasche habe ich ihn dann nach etwa drei Stunden ‘rumgekriegt. Ich hatte ja noch den<br />

Bluterguß an der Schläfe, und ich überzeugte ihn recht schnell davon, daß er mich trösten sollte.“

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