Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler
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Spiel - Thomas Peter Goergen<br />
Wachspapier eingeschlagenes, eckiges Bündel. Dann und wann griff sie in die Tasche und förderte<br />
bunte Sachen hervor, sich in den Mund zu schieben. Am Himmel stiegen, rot, die Wintervögel.<br />
Schließlich, kurz nach Anbruch des Tages, klang von ferne ein feines Klingeln über die sachte<br />
beglänzten, weißen Dächer der Stadt. Das Bimmeln rückte bedächtig näher.<br />
Die dunkle Kutsche bog um eine Ecke. Zielstrebig glitt sie über die neuschneeigen Straßen auf die<br />
Hütte zu; der Kutscher und sein Pferd, beide in schwere Decken gehüllt und überstreut von zartem<br />
Flaum des Schnees der Nacht. Vor der Hütte hielten sie an.<br />
Die Gestalt rührte sich und stapfte auf den Wagen zu. Davor blieb sie stehen und eine Zeitlang<br />
kreuzten sich die Blicke des Kutschers und des Sehers; dann griff dieser nach dem Bündel und reichte<br />
es zum Bock hoch: „Hier“, sagte er,“ bring´ das zur atamanischen Botschaft in die Oberstadt. Gib es<br />
dort ab. Dann verlaß die Stadt und kehre nie wieder zurück!“<br />
Der Kutscher nickte.<br />
Als er sich wieder der Straße zuwandte, setzte sich die Kutsche in Bewegung.<br />
Parcesastre sah den schwarzen Verschlag an sich vorüberziehen, das rotgelbe Wappen an der Türe:<br />
der Kopf, den vier Hände linksherum umkreisten und auf Mund und Ohren und Augen zum Liegen<br />
kamen - es war das letzte Mal, daß er diese Kutsche sehen sollte, er war sich sicher. Und das gleiche<br />
galt für - das Spiel. Es würde die Botschaft niemals verlassen!<br />
Noch bevor das Gefährt um die Biegung gefahren, außer Sicht endlich war, kehrte sich der Seher ab.<br />
Die Schlucht lag lautlos in der kalt-klaren, niedrigen Erststrahlsonne und ihre bleifarbenen Klüfte mit<br />
der weißen Maserung des Schnees hatte etwas unschuldig-sonnenbeschienenes wie ein (noch)<br />
schlafender Grauwolf. Wer auch immer nächtens dort zu Tode gekommen war, er war so sicher für<br />
immer verschwunden, als hätte ihn wahrlich ein Wolf verschlungen.<br />
Der Seher stand auf der Mitte der Brücke, lehnte sich auf die Brüstung und ließ sich die Sonne in den<br />
Rücken scheinen. Die Luft war noch feucht und sauber, frisch wie Eiswasser, und er genoß sie in<br />
vollen, tiefen Zügen.<br />
Seine Schulter schmerzte noch von dem tiefen Hieb, den er heute Nacht davongetragen hatte. Tarynth<br />
hatte nähen müssen. Und der Mantel hatte gestopft werden müssen. Eine denkwürdige Nacht.<br />
Eine meisterliche Finte war der letzte Zug des Fremden gewesen: den eigenartigen Bärenmenschen,<br />
die Hallakine, beide klug auf einander abgestimmt... Er mußte gewußt haben, daß der Bärenmann mir<br />
Gesichte bringen würde - und was für starke Gesichte, seltsam und von vom Tod gekennzeichnet - daß<br />
dieses Gesicht der Tropfen war, der den Damm zum Brechen brachte: seine (unwahre) Verwandlung<br />
kraft der Illusion, ausgelöst durch die letzte krankhafte Überreizung seines Geistes, mußte die<br />
Hallakine erschreckt und zum Rasen gebracht haben... Eigentlich schade, daß er niemals erfahren<br />
würde, welche Veränderung er diesmal erfahren hatte... Es war auch zu unbestimmtes Geschehen<br />
gewesen, als daß es unter seine Voraussicht gefallen wäre, unbestimmt wie ein Tonklumpen, aus dem<br />
auch keiner ersehen kann, was der Künstler daraus formen wird...<br />
Und wenn nicht der eine Bote dahergelaufen wäre, um dem Weibsbild die - ablenkende - Nachricht<br />
vom Unheil ihrer Herrin zu bringen, wodurch er den rettenden Augenblick zu entkommen gewann,<br />
hätte der Fremde womöglich Erfolg gehabt und diese hallakinische Höllenbrut hätte ihn in Stücke<br />
gehackt - bei der Vorstellung mischte sich Schauder und ein bitteres Lächeln.<br />
Er suchte in seinen Taschen, verzog schmerzvoll das Gesicht, als der Mantel sich über die Schulterwunde<br />
spannte, bis er Zuckerguß und Lebkuchen in Händen hielt, es versonnen kaute: die Illusion<br />
auszulösen war zugleich auch der große Fehler gewesen - die Gestalt, die er bisher beobachtet,<br />
verfolgt und bekämpft hatte, war ja verschwunden, vertauscht gegen das Wesen, welches das Trugbild<br />
gebar... und im Schatten jenes Blendwerks gelangte Parcesastre dann zu der verwünschten Hütte, die<br />
sich schon klar vor seinem geistigen Auge mahlte...<br />
Der Seher blickte kurz über die Schulter, blinzelte in das warme Licht.<br />
Er griff unter seinen Mantel und zog einen weichen Beutel hervor. Die Kordel war rasch gelöst und<br />
dann, der Totengräber zögerte einen Moment, langte er über die Brüstung und über der Schlucht<br />
kehrte er den Beutel von innen nach außen: eine Staubwolke stob hervor, graue, stinkende Asche und<br />
sank allmählich in die Tiefe der Klamm.<br />
„Lasset den Wurm zu den Würmern gehen“, sagte er leise. Im Frühjahr würde das Schmelzwasser das<br />
seinige tun.<br />
„Was tut Ihr da“, hörte er eine Stimme. Er drehte sich um. Eine alte Frau in einem schwarzen<br />
Überwurf, einen Lumpenkarren hinter sich, stand vor ihm und betrachtete ihn mit einem neugierigen