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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Erst als die Schritte ihrer Tochter verklungen war, sah sie wieder auf. Ihre Hände zuckten. Warum<br />

gleich Rhysian von ihrem Äußeren nur so sehr der, die sie am meisten haßte, und dem, den sie<br />

vermißte?<br />

Seit ihrem Schwächeanfall im Mittmond träumte sie immer wieder von Aziareya, der Tochter, die sie<br />

verstoßen hatte, oder sah am Tag deren Gesicht vor ihrem inneren Auge. Und sie war nicht nur dies<br />

eine Mal zusammengebrochen.<br />

„Mirtanh!“ flüsterte die Mechanica. Sie setzte sich auf die Bank, die ihr zur Sternbeobachtung diente<br />

und lehnte sich zurück. Der Stein war jetzt, gegen Ende des Talu schon empfindlich kalt, aber das<br />

machte ihr nichts aus. Sie genoß die Kälte, die ihr den Rücken hinaufkroch.<br />

Langsam beruhigte sie sich wieder, denn sie hatte in den letzten Nächten schlecht geschlafen, wenn<br />

überhaupt. Woran das lag, wußte sie nicht zu sagen - aber auch in ihrer Arbeit fand sie nicht den<br />

Frieden und die Erfüllung wie sonst. Glücklicherweise hatte sie zur Zeit nicht viele Kunden und<br />

Aufträge, so daß es aufgefallen wäre.<br />

„Aziareya, was auch immer du tust, es ist nicht richtig! Du spielst mit Mächten, die du nicht<br />

begreifst!“ murmelte sie und kratzte so heftig mit den Fingernägeln über den Stein, daß zwei<br />

absplitterten.<br />

Dann setzte sie sich wieder auf und blickte auf die belebten Gassen der Stadt. Ein Mädchen mit roten<br />

Haaren drängte sich gerade an zwei korbtragenden Frauen vorbei, deutlich zu erkennen durch die<br />

leuchtenden, flatternden Gewänder. „Rhysian?“ Besorgt wollte Ailanth die Dachterrasse verlassen -<br />

aber dann sah sie, wie zwei ihrer Mägde der Tochter folgten.<br />

Ailanth schloß die Augen. Es gab eine andere, würdigere Möglichkeit, das Kind aufzuhalten -<br />

„Warum tust du das, Kind? Warum läufst du weg, wenn ich dich schelte? BLEIB AUF DER STELLE<br />

STEHEN!“ - Vor ihrem innere Auge sah sie, wie Rhysian mit einem Quietschen stehenblieb und<br />

blicklos in die Gegend starrte, so sehr ein anderes Kind, das sich ihr wohl angeschlossen hatte, auch<br />

an der Hand zerrte. Die Menschen scharrten sich um die beiden Mädchen, stauten und spotteten -<br />

Gestalt im bläulichen Mantel streckte sogar zitternd die Hand aus. Erst als Mikari, eine der<br />

Dienerinnen heran war, löste sich Ailanth aus der Trance und seufzte. Sie wandte die „Gabe“ nicht<br />

gerne an, weil sie nicht wußte, wer dafür leiden mußte - aber diesmal war es nötig gewesen. Dann<br />

schüttelte sie den Kopf und strich die Haare aus der Stirn.<br />

Unten in ihrem Labor wartete ein mechanisches Kunstwerk auf sie, das seiner Fertigstellung harrte.<br />

Es würde sie auch davon ablenken, über ihre Töchter nachzudenken; gerade Rhysian hatte sich<br />

verändert und zeigte trotz ihres lieben Wesens plötzlich grausame Züge. Warum nur? Waren die<br />

Straßenkinder, mit denen sie sich seit einiger Zeit herumtrieb vielleicht daran schuld, diese<br />

mißratenen Gören?<br />

���<br />

„Ich muß wohl kurz eingenickt sein!“ Ailanth fröstelte und wischte sich schlaftrunken die Haare aus<br />

dem Gesicht. Sie fühlten sich feucht und klamm an, wie auch ihre Gewänder. Die Mechanica<br />

schreckte hoch. Ihre Hände waren trocken - aber das Gefühl blieb. Und nun war sie hellwach, blickte<br />

sich verwirrt um. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Da war etwas, was sie nicht<br />

einordnen konnte, und doch die Tiefen ihrer Seele berührte. Sie umklammert hielt und Furcht<br />

erweckte.<br />

Gleichmäßig funkelte der Sternenhimmel über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und Ruhe, wie so oft in den späten<br />

Nachtstunden war in den Gassen eingekehrt. Ailanth eilte an den Rand der Dachterrasse und sah sich<br />

um. Die Fackeln, die die größere Straße in der Nacht erhellten flackerten leicht. Selbst die an der<br />

Brücke bewegten sich nicht sonderlich stark.<br />

Sie ging einmal an der Begrenzung ihrer Terrasse entlang und sah sich um. Es war nichts verdächtiges<br />

zu sehen, kein Dieb, der sich über die Mauer geschlichen hatte, kein Betrunkener taumelte durch die<br />

Gassen. Nicht einmal die Soldaten patrouillierten dort, wo sie sollten. Es schien so, als sei das<br />

Rattenloch menschenleer ...<br />

Das durfte aber nicht sein - wo waren die vertrauten Geräusche: Das Klappern von Türen und<br />

Fensterläden, Schreie von Tieren und Rufe?<br />

Nein, das stimmte nicht ganz: die Luft war voller Laute - Raunen, Knurren, Zischen, Schaben und<br />

Brummen. Jemand schrie in der Ferne, als würde er entzweigerissen. Ailanth hielt die Luft an. Wie<br />

eine kühle, feuchte Zunge streichelte sie der Wind, ohne Spuren zu hinterlassen, kroch unter ihre<br />

Gewänder und ...

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