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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

meinte eine stumme Anklage zu lesen in den Augen des Ehemannes (dieser besuchte seine Frau noch<br />

zwei Mal die Woche) und seiner Söhne, nämlich erwartungsgemäß versagt zu haben.<br />

Seit einer Stunde war der Sammler jetzt bei der Frau - die Pfleger waren fortgeschickt, der Heiler<br />

wartete vor der Zellentür. Hin und wieder gestattete er sich einen Blick durch ein verborgenes<br />

Löchlein im Rahmen der Tür; dann sah er den roten Mann auf einem Hocker und die Kranke, ihrer<br />

Riemen entledigt, der Sammler bisweilen die Hand an ihrer Stirne, ihrer Wange, ihrer Brust, sie, am<br />

ganzen Körper bebend, doch nicht in einem Anfall, sondern wie plötzlich erregt - und dabei war<br />

dieses Paar ein hochernster, fast zärtlicher Anblick, dem jeder Augenschein einer quälenden,<br />

geistlosen Krankheit fehlte.<br />

Torador hatte es aufgeben, sich weiter Notizen zu machen. Anscheinend würde die Sache da drinnen<br />

noch sehr lange gehen.<br />

Lanungo aber war tief in das Bewußtsein der Frau gedrungen, dorthin, wo sich die Krankheit selbst<br />

noch nicht gewagt hatte.<br />

Da war sie auch, die Frau, eine fröhliche, lebenslustige Frau, mit Freude am Tanz und an Geselligkeit,<br />

nun gefangen in einem Gefängnis, das sich für sie immer weiter verengte -<br />

Du hast es gesehen...<br />

Ich sah es, sah es kommen. Du hast den Ruf nicht verstanden...<br />

Erkläre es mir...<br />

Nichts war für Dich bereit. Du mußt es selbst bereiten. Was Du verlangst, ist jetzt nicht möglich...<br />

Nicht möglich... Schmerz.<br />

Was Du verlangst, naht noch aus vielen Richtungen herbei. Die Mutter muß geheilt werden und ganz<br />

gemacht werden auch von Dir. Die Splitter fügen sich zum Ganzen.<br />

Zeige mir sie!<br />

Und es dämmerten Bilder herauf...<br />

Nun muß ich gehen.<br />

O bitte, bleibe noch. Nicht allein, nicht wieder so allein... Sie zittert, wie sie zittert.<br />

Ich muß. Ich kann nicht bleiben.<br />

Schweigen. Dann - Ich weiß, ich weiß es... Du kommst nicht wieder...<br />

Pantuino, Cera val, mögen die Gebete fruchtbar sein.<br />

Lebe wohl, Atamane, Glück mit Dir...<br />

Als Torador just durch die Öffnung spähte, sah er den Sammler die Kranke, fest umfangen, sachte in<br />

seinen Armen wiegen; sie hing vollkommen weich und kraftlos und ohne die Härte ihrer Krämpfe<br />

darin.<br />

Schwach vernahm der Heiler zu seinem allergrößten Erstaunen, daß der Sammler tatsächlich sang:<br />

eine Weise, deren Worte für ihn keinen Sinn ergaben, fremdartig klangen, ebenso die Melodie, deren<br />

klarer, auf- und abschwellender Fluß, ähnlich einem schönen, stimmungsvollen Ort oder einem<br />

ewigvertrauten Gesicht, Erinnerungen wachrief, solche, die einem lieb waren, und, einprägsam, noch<br />

am Leben hielt, lange nachdem der Singende geendet hatte.<br />

Und es dämmerte dem Heiler im gleichen Augenblick, daß genau dies der Rote der Frau noch zuletzt<br />

hatte geben wollen.<br />

Wenig später begleitete der Heiler seinen Gast nach draußen.<br />

In diesen Tagen erhielt die Lyzeum von unbekannter Seite Zuwendungen in noch nie dagewesener<br />

Höhe und Großzügigkeit.<br />

Dem Gerichtsdiener Weizbrück wurde - ebenfalls von unbekannter Seite - ein verhältnismäßig nicht<br />

minder großzügiges Geldgeschenk gemacht, welches dem Hausstand des braven Mannes ein<br />

sorgenfreies Leben für die nächsten Jahre sicherte.<br />

Lanungo begab sich zurück in die Unterstadt. Er hatte von der Kranken erfahren, was zu erfahren<br />

gewesen war.<br />

Das Bewußtsein der Frau war durch das Siechtum in einem anders nie erreichbarem Maße verändert<br />

worden - alles bisher Bewußte war verlustig gegangen durch die Schrumpfung ihrer<br />

Wahrnehmungskraft, aber wie beim Auge, das zusammengekniffen nicht mehr viel, aber eine Sache<br />

umso schärfer zu sehen vermag, war ihr Restbewußtsein geschärft worden.<br />

Nicht umsonst nannten die Sammler diese Krankheit 'Seh Asvril', die Erkennende.

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