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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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zeichnet. Was es heißt, Kommunist zu sein, die Vorbehalte gegenüber dem<br />

Vorrecht der KPdSU nicht aufzugeben und deshalb mit dem Parteikommunismus<br />

brechen zu müssen, unterlag dem Prozess des sukzessiven Vergessens.<br />

1<br />

Damit der Befund des sukzessiven Vergessens über den Status einer Behauptung<br />

hinausgeht, will ich ihn zusätzlich mit gedächtnistheoretischen<br />

Überlegungen verknüpfen, deren Fokus auf dem Aspekt kollektiven Vergessens<br />

liegt. Dies bildet den zweiten Zugang, der das Verschwinden der Erinnerung<br />

an ein (spezifisch historisches) kommunistisches Begehren plausibilisieren<br />

soll.<br />

Als grundlegend für das Feld gelten die Überlegungen zum kollektiven<br />

Gedächtnis von Maurice Halbwachs. 2 Aus seiner Perspektive ist das individuelle<br />

Erinnerungsvermögen sozial bedingt. Nur im Rahmen eines kommunikativen<br />

Austauschs kann individuelles Gedächtnis und in diesem Zug<br />

individuelle Identität ausgebildet werden. Daraus resultiert, dass die Erinnerungsinhalte<br />

einer gegenwartsbezogenen Prägung unterworfen sind. Sie<br />

verändern sich im Zuge der jeweiligen Anforderungen der Gegenwart, werden<br />

überlagert von neuen Erfahrungen, gegebenenfalls revidiert oder verworfen.<br />

Der Gegenwartsbezug bedeutet demnach auch, dass Erinnerung selektiv<br />

ist. Erinnert bleibt, was sich als funktional erweist. Vergessen wird,<br />

was unnütz geworden ist oder die Bewältigung des Alltags stört.<br />

An dieses Konzept des kollektiven Gedächtnisses knüpfen Aleida und Jan<br />

Assmann an und leisten eine Binnendifferenzierung des Begriffs. 3 Während<br />

die Tradierung des Gedächtnisses für Halbwachs an direkte intergenerationelle<br />

Kommunikation geknüpft ist, wird es in ihrem Konzept zeitlich<br />

entgrenzt und räumlich entbunden: Es muss nicht auf die unmittelbare Interaktion<br />

zwischen menschlichen Gedächtnisträgern, die miteinander kommunizieren,<br />

beschränkt sein, sondern erfährt eine Erweiterung durch die<br />

Überlegung, dass kulturelle Gegenstände eine Erinnerungsweitergabe über<br />

einen längeren Zeitraum ermöglichen.<br />

»Verlust« im Sinne eines kollektiven Vergessens kann in diesem Zusammenhang<br />

mithin verstanden werden als Teil soziokultureller Erinnerungspraktiken.<br />

Das Problem dieser gedächtnistheoretischen Ansätze ist, dass unterbelichtet<br />

bleibt, was Funktionalität und Gegenwartsbezug eigentlich<br />

bedeuten. Dass Erinnerung und Vergessen in ein komplexes und konfliktrei-<br />

1 Aus der Perspektive der Forschung kann der momentanen Situation aber auch Positives abgewonnen werden:<br />

Zum einen sind nun Quellenmaterialien für die Forschung zugänglich, die zuvor nur einem ausgewählten<br />

Kreis vorbehalten waren. Zum anderen besteht nun die Möglichkeit, Dokumente der Geschichte erneut<br />

zu durchforsten und Erfahrungen offenzulegen, die zuvor immer dem binären Raster der<br />

Systemkonkurrenz untergeordnet waren; zentrale Facetten blieben deshalb ausgeblendet.<br />

2 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [1925], Frankfurt am Main 1985;<br />

ders.: Das kollektive Gedächtnis [1950], Frankfurt am Main 1991.<br />

3 Vgl. Aleida Assmann; Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988.<br />

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