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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Der Weg nach Remera-Rukoma führt über eine holprige Staubpiste, vorbei<br />

an Eukalyptus- und Papayabäumen, lose verstreuten Klein- und Kleinstgärten.<br />

Der Ortskern ist tagsüber von Fußgängern, Fahrradtaxen und Mopedfahrern<br />

belebt. Unter den Wohnhäusern und Kioskbuden sticht ein von<br />

hohen Mauern umfriedeter Backsteinbau hervor. Hier ist der Sitz von Sevota<br />

– Anlaufstelle für Kriegswitwen und Kriegswaisen, für Frauen, die Opfer<br />

sexueller Gewalt geworden sind, die Kinder geboren haben, die sie nicht<br />

wollten, die einfach da sind und jetzt großgezogen werden müssen.<br />

Godeliève Mukasarasi hat sich nach dem Genozid mit einigen Frauen<br />

ihres Dorfes zusammengetan. Gemeinsam die Toten zu betrauern, sich gegenseitig<br />

zu trösten, war ursprüngliches Motiv zur Gründung von Sevota,<br />

erzählt die Überlebende und heutige Menschenrechtsaktivistin. Dass über<br />

Remera-Rukoma hinaus ihre Organisation mittlerweile landesweiten Zulauf<br />

erfährt, führt Godeliève auf Opferzahlen zurück, für die schier die Begriffe<br />

fehlen: Zwischen 250 000 und 500 000 Mädchen und Frauen wurden sexuell<br />

gefoltert, verstümmelt, zur Zwangsprostitution in Kriegsbordelle verschleppt. 7<br />

Die massenhaften Vergewaltigungen waren geplante Kriegstaktik. Häufig<br />

ermordeten Soldaten und Milizen die Tutsi-Männer eines Ortes zuerst. Ihre<br />

perfiden Exzesse umschrieben die Mörder verharmlosend mit Begriffen der<br />

alltäglichen Feldarbeit. Das Abmetzeln der Männer wurde als das »Abschlagen<br />

von Büschen zur Freilegung von Ackerfläche« bagatellisiert. Die brutalen<br />

sexuellen Übergriffe an Frauen wurden als »Ausrottung von Unkraut«<br />

und als das »Herausreißen der Wurzeln« bezeichnet. Tatsächlich zielte das,<br />

was mit den Vergewaltigungsopfern geschah, auf die völlige Vernichtung<br />

der feindlichen Volksgruppe. Jede Hoffnung auf eine Zukunft sollte zerstört,<br />

an der Wurzel herausgerissen werden. 8<br />

Frauen, die trotzdem überlebten, leiden bis heute an körperlichen und<br />

seelischen Verletzungen infolge der Vergewaltigungen. Über 70 Prozent der<br />

Kriegsvergewaltigten wurden mit dem HI-Virus angesteckt. Godeliève spricht<br />

über die verheerenden Folgen der Gewalt: »Bei uns lebt man von der Land-<br />

6 Vgl. Catharine Newbury; Hannah Baldwin Aftermath: Women in Postgenocide Rwanda, Working Paper<br />

No. 303, Center for Development Information and Evaluation, Washington 2000.<br />

7 Über diese Zahlen existieren nur Schätzungen. Viele Frauen wurden nach den Vergewaltigungen umgebracht.<br />

Und bis heute verschweigen viele Überlebende die erlittenen Qualen – aus Scham, aus Angst vor Rache<br />

und vor Stigmatisierung. Vgl. zum Beispiel Amnesty International: Rwanda, Marked for death, Rape<br />

survivors living with HIV/AIDS in Rwanda, London 2004.<br />

8 Vgl. Anne-Maria Brandstetter: Die Rhetorik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft: Bürgerkrieg und Genozid<br />

in Ruanda. In: Sociologus, Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, Jg. 51,<br />

Berlin 2001, S. 148-184; vgl. Schäfer 2008 (s. Anm. 2). – Sexualisierte Gewalt war eine systematische Vernichtungsstrategie,<br />

die zusätzlich noch symbolisch aufgeladen war. Wie Brandstetter in ihrem Artikel »Die Rhetorik<br />

von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft« beschreibt, spielten bei der Entmenschlichung der Opfer Vorstellungen<br />

von Reinheit und Unreinheit eine zentrale Rolle. Sexistische Zerrbilder, die Tutsi-Frauen und<br />

-Mädchen eine besondere Anziehungskraft zuschrieben – Konstrukte und Präferenzen, die noch auf die belgischen<br />

Kolonialherren zurückgingen –, wurden mit extremistischer Propaganda von der »bedrohten Hutu-<br />

Nation« aufgeladen. Der Propaganda zufolge sollte in einem »Reinigungsritual« das Volk der Hutu von den<br />

»verunreinigten« Tutsi »gesäubert« werden. Die Vernichtung der Tutsi, die teilweise rituell inszenierten<br />

Gewaltexzesse, zielten auf die Schaffung einer »gereinigten« Hutu-Identität.<br />

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