02.12.2012 Aufrufe

Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

die grüne und blaue Unendlichkeit hin, von welcher, frei und ohne Hindernis,<br />

mit sanftem Sausen ein starker, frisch, wild und herrlich duftender<br />

Hauch daherkam, der die Ohren umhüllte und einen angenehmen Schwindel<br />

hervorrief, eine gedämpfte Betäubung, in der das Bewußtsein von Zeit<br />

und Raum und allem Begrenzten still selig unterging ...« 12<br />

Heute weiß man, dass die hohe Konzentration ionisierten Sauerstoffs an<br />

den Meeresküsten diese Benommenheit hervorruft, die Romantiker schrieben<br />

sie dem stetigen Auf und Ab des mütterlichen Ozeans zu. Die qualitative<br />

Kumulation räumlicher, zeitlicher und körperlicher Entgrenzung mündet<br />

fast in ein Verschwinden von Raum und Zeit für denjenigen, der sich ihr ausliefert:<br />

»Es gibt auf Erden eine Lebenslage, gibt landschaftliche Umstände<br />

(wenn man von ›Landschaft‹ sprechen darf in dem uns vorschwebenden<br />

Falle), unter denen eine solche Verwirrung und Verwischung der zeitlichräumlichen<br />

Distanzen bis zur schwindeligen Einerleiheit gewissermaßen<br />

von Natur und Rechtes wegen statthat, so daß denn ein Untertauchen in<br />

ihrem Zauber für Ferienstunden allenfalls als statthaft gelten möge. Wir meinen<br />

den Spaziergang am Meeresstrande … Du gehst und gehst … du wirst<br />

von solchem Gange niemals zu rechter Zeit nach Hause zurückkehren, denn<br />

du bist der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen …« 13<br />

Dieter Richter wertet diesen Textauszug als Beleg für die »Erfahrung der<br />

Vernichtung von Raum und Zeit«, die Erfahrung einer »wundersame[n] Verlorenheit«,<br />

der »Rückkehr ins Vor-Bewußte, Prä-Zivilisierte« 14 . Seebäder ihrerseits<br />

unterstützen in ihrer Erscheinung den Eindruck des Flüchtigen: Ohne<br />

eine »ordentliche Siedlungsstruktur« stehen die Häuser »wie die Strandkörbe«<br />

»provisorisch, saisonal, fast ambulant« auf Dünensand 15 , dem selbst flüchtigen,<br />

ortsungebundenen Treib-Stoff, und vermitteln einen leicht melancholischen<br />

Hauch von Vergänglichkeit. Gleichsam vermögen sie die Zeit zu bewahren<br />

und zum Stillstand zu bringen: »Palaststädten gleich, wie gestrandet an<br />

den Ufern der Zeit, liegen diese Orte in einem gleichermaßen zeitlos-ideellen<br />

wie neu erfundenen Vorstellungsraum, nicht wirklich vergangen und nicht<br />

wirklich von heute, dort, wo die Wirklichkeit selbst verschwimmt. Außer<br />

Kraft gesetzt erscheint mit einem Mal das unbeugsame Gesetz der Zeit.« 16<br />

12 Thomas Mann: Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Berlin (Ost) 1974, S. 603 f.<br />

13 Thomas Mann: Der Zauberberg, 1924, zitiert nach Richter 1998 (s. Anm. 4), S. 23.<br />

14 Vgl. Richter 1998 (s. Anm. 4), S. 22.<br />

15 Vgl. Gerd Neumann: Wilhelminische Bäderarchitektur. Verglaster Klassizismus zwischen Bretterbude und<br />

Schinkel. In: Bauwelt: Bauen für Glück und Muße, Jg. 68, Nr. 22, 1977, S. 716-719, hier: S. 716.<br />

16 Catherine Sauvat; Erica Lennard: Damals in Marienbad. Die schönsten Heilbäder Europas, München 2000,<br />

S. 7. – Dieses Zitat bezieht sich auf die klassischen binnenländischen Kurbäder, in deren Traditionslinie allerdings<br />

Seebäder zu verorten sind. – Vgl. dazu: Ursula Quecke: Von Badekarren und Schaluppen. Zur<br />

Geschichte des Seebadens an Nord- und Ostseeküste. In: Susanne Grötz, Ursula Quecke (Hrsg.): Balnea.<br />

Architekturgeschichte des Bades, Marburg 2006, S. 123-137; insbesondere S. 128. Zu strukturellen Gemeinsamkeiten<br />

von Kur- und Seebädern vgl. Alexa Geisthövel: Promenadenmischungen. Raum und Kommunikation<br />

in Hydropolen 1830-1880. In: Alexander C. T. Geppert, Uffa Jensen; Jörn Weinhold (Hrsg.):<br />

Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 203-229.<br />

261

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!