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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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seligen und erniedrigten Vororte noch lange jungfräulich und intakt neben<br />

den sogenannten vornehmen Vierteln weiter bestanden haben würden, bis<br />

die Zeit endlich reif geworden wäre für die Zerstörung der letzteren und<br />

eine allgemeine Wiedergeburt.« 16 Dieses antibürgerliche Weltbild nimmt dort<br />

politische Formen an, wo Pasolini die aufziehende Konsumgesellschaft und<br />

das Vertrauen, das ihr von den unteren Klassen entgegengebracht wird,<br />

geißelt. Gegen die linke Hoffnung auf eine »Stimmzettelrevolution« und den<br />

Aufklärungsoptimismus fordert er zur Bewahrung der Vergangenheit auf:<br />

»Die Kenntnis von der Anatomie der kapitalistischen Produktion und Reproduktion<br />

würde, da waren sich die Klassiker eigentümlich sicher, eine<br />

Revolution ermöglichen«, aber Pasolinis »tief liegender, nie in dieser Form<br />

geäußerter Verdacht, der moderne Industriearbeiter sei tendenziell bereits<br />

ein sozialer Homunculus«, widerspricht dieser Vorstellung. 17 Dieser thematische<br />

Komplex schlägt sich zunächst in zwei Romanen – Ragazzi di Vita von<br />

1955 und Una vita violenta von 1959 – nieder und schließlich in Pasolinis ersten<br />

Filmen Accattone (1961) und Mamma Roma (1962). Der Anspruch der Filme<br />

ist im Vergleich zu den elaborierten Überlegungen Eisensteins zunächst naiv:<br />

es geht Pasolini um die »Sprache der Wirklichkeit«, die er im Film hofft wiedergeben<br />

zu können. In diesem Sinne greift er Elemente des Neorealismus<br />

auf – so die statische Kamera, das Drehen an Originalschauplätzen und mit<br />

Laienschauspielern aus dem abgebildeten Milieu. Auf einer zweiten Bedeutungsebene<br />

entwickelt Accattone hingegen eine »mythisierende Tendenz« 18 ,<br />

die über den sozialdokumentarischen Anspruch hinausweist.<br />

»Accattone« bedeutet so viel wie Bettler oder Schmarotzer. Das ist der<br />

Name, mit dem Vittorio in der verslumten Vorstadt, die Schauplatz des Films<br />

ist, von anderen Entwurzelten, Arbeitslosen und Gelegenheitsgaunern gerufen<br />

wird. Accattone lebt getrennt von Frau und Kind mit Maddalena, die als<br />

Prostituierte für ihn anschaffen geht. Er wird eingeführt als Müßiggänger, der<br />

ebenso risikofreudig wie verzweifelt und selbstmitleidig seine Zeit mit Kartenspielen,<br />

auftrumpfenden Reden und herausfordernden Wetten verbringt: so<br />

behauptet er, auch mit vollem Magen von der Ponte Sant’Angelo in den Tiber<br />

springen zu können. Das bringt ihm eine Mahlzeit ein und steigert seine Reputation<br />

(»Jetzt weißt du, wer Accattone ist«). Die waghalsige Wette kann aber<br />

auch als Selbstmordversuch gedeutet werden (von dem es weitere im Laufe<br />

des Films gibt) und wird durch den Schauplatz und die Inszenierung mythologisch<br />

überformt (Abb. 7 und 8) – von Anfang an schlägt Pasolinis Film die<br />

16 Ebd., S. 10.<br />

17 Peter Kammerer: Pasolini und die italienische Krise. Eine Arbeitshypothese. In: Prokla, Jg. 25, Heft 98, 1995,<br />

S. 123-129, hier: S. 126 f.<br />

18 Schütte 1977 (s. Anm. 14), S. 106.<br />

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