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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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für Pasolini nicht voneinander zu trennen. Und doch sind die Unterschiede<br />

zu Eisensteins Darstellung allgegenwärtig. So zeigen etwa Accattone, Maddalena,<br />

Stella und andere eine auffallende körperliche Präsenz: es sind<br />

schöne und in ihren Bewegungen keineswegs unsichere Menschen. In der<br />

Eingangssequenz werden die Zuhälter und Kleinganoven sich sonnend, mit<br />

nacktem Oberkörper, schmatzend und lachend gezeigt. Accattone gewinnt<br />

seine Wette mit einem perfekten Kopfsprung. Sicher, wir wissen nicht, wie<br />

die Figuren reagieren würden, sollten sie vor die Wahl zwischen proletarischer<br />

Solidarität und – womöglich lukrativer – Kollaboration mit dem bürgerlichen<br />

Lager gestellt sein. Es geht Pasolini nicht darum, die Subproletarier<br />

als Revolutionshindernis vorzuführen, er berichtet vor allem aus der Innenperspektive<br />

des Milieus, Situationen des Kontakts mit dem (kämpfenden)<br />

Proletariat, wie er in Streik im Mittelpunkt steht, finden im Grunde genommen<br />

nicht statt. Accattone ist kein Täter wider die Klassensolidarität, aber<br />

auch keineswegs bloß Opfer der Verhältnisse.<br />

Von Pasolinis Bezugnahme aufs Lumpenproletariat wurde gesagt, dass<br />

sie »absurd wird, wenn man diese Kategorie soziologisch, anstatt eben theologisch<br />

begreift« 20 . Tatsächlich wird der Einspruch gegen das von Eisenstein<br />

entworfene Bild revolutionärer Subjektivität vor allem auf der zweiten, mythischen<br />

Bedeutungsebene manifest. Das heißt, es kann nicht darum gehen,<br />

zu entscheiden, wer von beiden – Eisenstein oder Pasolini – in der Inszenierung<br />

des Lumpenproletariats »Recht hat«. Auf der »materiellen« bzw. sozialdokumentarischen<br />

Ebene bleibt Pasolinis Kritik begrenzt, erst in Verbindung<br />

mit den religiösen Überhöhungen gewinnt sie an Kraft. So haben etwa die<br />

Kreuzigungsszenen in Accattone eine ganz andere Bedeutung als in Streik.<br />

Nicht das Proletariat wird heilig gesprochen, sondern der Zuhälter Accattone<br />

durchlebt eine Passionsgeschichte (wovon die kommunistische Partei<br />

Italiens und der Katholizismus übrigens gleichermaßen empört waren). Bezüglich<br />

der Figurendramaturgie läuft Pasolinis Film dem Eisensteins genau<br />

entgegen: Accattone wird als Mitglied einer Gruppe eingeführt, isoliert sich<br />

aber im Laufe des Films immer stärker von seiner Umwelt. In der borgata<br />

wird er ausgeschlossen (von seiner ehemaligen Frau und deren Familie)<br />

oder schließt sich selbst aus (die Prügelei mit den Freunden); der Alptraum<br />

nach seinem ersten (und einzigen) Lohnarbeitstag verdeutlicht, dass auch<br />

die Konversion von Accattone zu Vittorio unmöglich ist. Erst der Tod befreit<br />

ihn von der verzweifelten Suche nach Identität. So kann zwar »Accattones<br />

Wunsch, ein anderer zu werden – nämlich ein kleinbürgerlicher Sieger (Vittorio),<br />

der nach den Sternen (Stella) greift –, als strafbare Verfehlung erscheinen,<br />

die er mit dem Tode büßt« 21 . Im Sinne der mythischen Überhöhung han-<br />

20 Kammerer 1995 (s. Anm. 17), S. 129.<br />

21 Schütte 1977 (s. Anm. 14), S. 108.<br />

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