02.12.2012 Aufrufe

Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

dings gelten dieses Autobiografiekonzept und das darin enthaltene Subjektverständnis<br />

als problematisch. Im Zuge der Subjektkritik des sogenannten<br />

lingustic turn, der in den 1970er Jahren die Autobiografieforschung erreichte,<br />

wurde die Darstellungsform nicht mehr als neutral verstanden und deshalb<br />

selbst zum Thema. 14 Die Kritik des Subjekts als (bewusster) Schöpfer der eigenen<br />

Geschichte wurde im Bereich der Autobiografieforschung zur Kritik<br />

des Subjekts der eigenen Geschichtsschreibung. Hier steht sowohl die Verantwortlichkeit<br />

des Subjekts als auch sein Bezug auf die Erinnerung zur Disposition.<br />

Kernfragen sind nunmehr: Was kann noch als Lebensgeschichte<br />

gelten, wenn das Autorensubjekt, das für die Wahrhaftigkeit bürgen soll, zur<br />

Disposition steht? Wovon schreibt der Autobiograf, wenn die Grenze zwischen<br />

gelebter Erfahrung, Authentizität und Fiktionalität verschwimmt und<br />

eine Grauzone der Unentscheidbarkeit sichtbar wird?<br />

Ähnlich den angrenzenden Bereichen der gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen<br />

Forschung befindet sich durch die Kritik des Gegenstands<br />

auch die Autobiografieforschung noch im Zustand der Verunsicherung.<br />

Allerdings muss aus meiner Sicht die Gegenstandskritik nicht automatisch<br />

zum Gegenstandsverlust führen, wie von poststrukturalistischer Warte aus<br />

proklamiert wird. Eine Sensibilisierung für die Konstruiertheit von Subjekt<br />

und Referenz heißt nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnis nunmehr unmöglich<br />

ist. Dass Erlebnisse dem Schreiben der Autobiografie vorangingen,<br />

also von einer Referenz des autobiografischen Textes ausgegangen werden<br />

muss, stellt eine grundlegende perspektivdefinierende Annahme dar. Umgekehrt<br />

wird im Zusammenhang dieser Dissertation die Autobiografie auch<br />

nicht als bloße Darstellung missverstanden, sondern auch der konstruktive<br />

und formierende Aspekt der Schreib- und Rezeptionsprozesse gesehen.<br />

Autobiografie wird in diesem Sinne daher als Text verstanden, der versucht,<br />

die Lebensgeschichte als gegliederte und organisierte Einheit zu erzählen.<br />

Die Fragmente erlebter Biografie werden vom Autobiografen im Rahmen<br />

der Niederschrift der eigenen Lebensgeschichte einer Prüfung unterzogen<br />

und in diesem Zug gedeutet. Im Zuge dieser Interpretation ordnet und selektiert<br />

der Autor die Erinnerungsfragmente und verleiht ihnen hierdurch<br />

(retroaktiv) Sinn. Wichtige Erinnerungen aber, die den autobiografischen<br />

Schriften (insbesondere bei den Autobiografien ehemaliger Kommunisten)<br />

zugrunde liegen, sind häufig überlagert durch spätere Erfahrungen, die die<br />

Erben dieser Auffassung, obschon mit dem Problembewusstsein gegenüber der Konstruiertheit auch der<br />

›objektiven‹ Geschichte ausgestattet.« – Holdenried 2000 (s. Anm. 12), S. 22 f.<br />

14 Dies erfasste auch die Geschichtswissenschaften insgesamt. Seitdem Hayden White die Geschichtsschreibung<br />

des 19. Jahrhunderts untersucht und aufgezeigt hat, dass sie selbst einer Struktur der Geschichtenerzählung<br />

folgt, hat sich in die Geschichtswissenschaft die Sensibilität dafür eingeschlichen, dass der objektive<br />

Anspruch der geschichtlichen Darstellung nicht länger haltbar ist. Vgl. Hayden V. White: Metahistory. The<br />

Historical Imagination in Nineteenth Century Europe [1973], Baltimore u. a. 1997.<br />

145

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!