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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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ches Netz eingebunden sind, kann durch kulturtheoretische Bezüge vertieft<br />

werden, die auf die kulturkonstituierende Bedeutung von Vergessen hinweisen.<br />

In den Kulturwissenschaften gilt Friedrich Nietzsches Zeitkritik als wichtiger<br />

Zeuge für den Zusammenhang zwischen Vergessen und Kulturkonstitution<br />

bzw. Kulturvitalität. Nietzsche vergleicht in seiner Schrift Vom Nutzen<br />

und Nachtheile der Historie für das Leben die leidvolle Existenz des Menschen<br />

mit der Idylle und Unmittelbarkeit der Tierwelt. Während Tiere mit ihrem<br />

Empfindungsvermögen an den Pflock des Augenblicks angebunden sind,<br />

besitzt der Mensch das schwere Los des Erinnerungsvermögens. Dies macht<br />

den Menschen zwar dem Tier überlegen, aber der Preis für diesen Besitz ist<br />

hoch: Nur der Mensch kennt Schwermut und Überdruss, von denen die weidende<br />

Tierherde nichts wissen kann. Seine Schlussfolgerung ist, dass es eine<br />

Verwendung »von historischen Sinnen [gibt], bei dem das Lebendige zu<br />

schaden kommt, und zuletzt zugrunde geht« 4 . In dem Moment, in dem die<br />

Erinnerung den Bezug zum Leben verliert, wird sie dem Menschen zur Last<br />

und stellt seine Entwicklung in Frage. Die Menschen sollen sich demnach<br />

der Historie so weit bedienen, wie ihre Kultur diese zum Leben benötigt. Sobald<br />

sie sich aber zum Selbstzweck verdinglicht, verliert sie ihre Berechtigung.<br />

Vergessen ist also der Sinn als Korrektur, wenn die monumentalistische<br />

und antiquarische Form der Geschichte ein lebensfeindliches Übermaß<br />

gewinnen.<br />

Auch für Sigmund Freud ist Vergessen von kulturkonstitutiver Bedeutung.<br />

In seiner kulturgenetischen Studie Totem und Tabu überträgt er das<br />

Trauma der ödipalen Urszene auf den phylogenetischen Ursprung von Zivilisation<br />

und Kultur. An den Ausgangspunkt stellt er die Annahme einer<br />

prähistorischen Urhordenexistenz der Menschheit, innerhalb welcher alle<br />

Mitglieder der Autorität des Vaters unterstehen, der alleine über die Frauen<br />

verfügt und bei Regelverbot die Söhne mit dem Tod oder Kastration bestraft.<br />

Der erste Schritt im Übergang zur Kultur wird vollzogen, indem die Brüder<br />

sich verbünden, den Vater ermorden und verspeisen. Infolge der Scham über<br />

den Regelverstoß, für die die Autorität des Vaters stand, etabliert sich eine<br />

neue Gesellschaftsordnung, in der Vatermord und Inzest tabuisiert sind. Der<br />

Urvater wird in den Rang einer diffusen Gottheit erhoben und der Tötungsakt,<br />

der zur Etablierung der abstrakten Gebote geführt hat, die den gesellschaftlichen<br />

Mitgliedern einen Triebverzicht abverlangten, verdrängt.<br />

Auch in der Dialektik der Aufklärung findet sich eine Figur des Vergessens,<br />

das in den Prozess der menschlichen Entwicklung eingeschrieben ist. Ausgehend<br />

vom Zustand der Menschheit, der seine Ausprägung im Faschismus<br />

4 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874]. In: Ders.: Kritische Studienausgabe,<br />

Bd. 1, Berlin, New York 1988, S. 243-334, hier: S. 250.<br />

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