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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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schen dem »intensiven Lesen«, das im Mittelalter vorherrschte, und dem<br />

diesen Lesetypus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ablösenden »extensiven<br />

Lesen« als neuzeitlicher Form des Lesens formuliert. Das »intensive<br />

Lesen« konzentriert sich, laut Engelsing, auf wenige Bücher, die wiederholt<br />

gelesen werden. Der Leser »las […] seine Bücher nicht durch, sondern er<br />

lebte sie durch und suchte sich immer wieder dasselbe zu vergegenwärtigen«<br />

25 . Das »extensive Lesen« besteht im schnellen, einmaligen Lesen vieler<br />

Bücher.<br />

Linguistische und philologische Textanalysen 26 zeigen, dass die Verfasser<br />

ihre Erbauungsbücher daraufhin ausrichteten, die Leser_innen sich in den<br />

Text vertiefen zu lassen und ihnen so zu ermöglichen, den Text innerlich,<br />

persönlich wahrzunehmen, den Inhalt des Buches also nicht kritisch, sondern<br />

emotional anzunehmen. Durch solche Verinnerlichung mussten die Leser_innen<br />

die Gedanken des Buches als eigene, aus dem Grund des Herzens<br />

ausgehende Gedanken, betrachten. Gleichzeitig wurde die Vorstellung von<br />

diesem Herzensgrund von den Texten selbst gestaltet und so ein Beitrag zur<br />

Subjektivierung und Individualisierung geleistet. Die Techniken, die dabei<br />

eingesetzt wurden, kann man insgesamt als Meditation bezeichnen, die auf<br />

Individualisierung und Emotionalisierung der zentralen Thesen der christlichen<br />

Lehre zielt.<br />

Das wichtigste, das intensive Lesen und die Meditation fördernde hermeneutische<br />

Verfahren in der Erbauungsliteratur ist die Anwendung (applicatio).<br />

Es besteht darin, dass der Inhalt der Bibel, der heiligen Geschichte und der<br />

christlichen Lehre für den konkreten Leser/die konkrete Leserin in seinem/ihrem<br />

konkreten Leben als sinnvoll und bedeutsam interpretiert wird.<br />

Diese Interpretation bringt das Buch näher zu dem Rezipienten/der Rezipientin,<br />

hebt die Distanz zwischen dem Text und dem Leser/der Leserin, zwischen<br />

der Lehre und den Menschen auf und fördert als Ergebnis ihre/seine<br />

Identifizierung mit dem Inhalt des Textes im Verlauf der Lektüre.<br />

Eine weitere wichtige Technik, die die Identifizierung der Leser_innen mit<br />

dem Text ermöglicht, stellt die Rhetorik dar. In der Erbauungsliteratur finden<br />

wir verschiedene für die barocke Stilistik typische Merkmale: bildliche Vergleiche,<br />

Metaphern, Emblematik, rhetorische Fragen, Dichotomien, Antithesen,<br />

Paradoxa. Aber rhetorische Mittel in der Erbauungsliteratur sind nicht<br />

nur schmückendes Beiwerk, sondern als Mittel zum Zweck dem allgemeinen<br />

Ziel der Erbauung unterworfen. Die Pronomina, die in der Erbauungsliteratur<br />

verwendet werden, müssen der Identifizierung dienen, indem sie<br />

die Vertiefung der Leser_innen in den Text durch die Anwendung (applicatio)<br />

fördern.<br />

25 Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800, Stuttgart 1974, S. 183.<br />

26 Vgl. Oliver Pfefferkorn: Übung der Gottseligkeit. Die Textsorten Predigt, Andacht und Gebet im deutschen<br />

Protestantismus des späten 16. und 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005.<br />

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