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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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der subjektiven Geschichte und der davon ausgehenden Wahrnehmung. 40<br />

Das heißt, wahlweise ist die Forschungsperson in ihrer Wahrnehmung zum<br />

Beispiel spezifisch sensibilisiert oder eher resistent gegenüber bestimmten<br />

Sachverhalten. Gleichzeitig sagen konkrete Reaktionen auf die Forschungssituation<br />

und die Begegnung auch etwas über die latenten Strukturen der untersuchten<br />

Verhältnisse aus. Der Gesellschaftsbezug stellt einen bedeutenden<br />

Aspekt der ethnopsychoanalytischen Herangehensweise dar. 41 Sie geht davon<br />

aus, dass Individuum und Gesellschaft verwoben sind und subjektiv<br />

erscheinende Reaktionen immer auch ein Verweis auf kulturell objektive<br />

Handlungs- und Denkstrukturen sind. 42 Auf der methodischen Ebene bewirken<br />

die explizite Einbeziehung emotionaler Regungen und die Aufdeckung<br />

der psychischen Strukturen und Vorgänge der Forschungsperson sowohl die<br />

»Entzerrung« individueller Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (und dadurch<br />

möglicher manipulativer und suggestiver Elemente) als auch eine Veranschaulichung<br />

von verinnerlichten gesellschaftlichen Normen und Werten. 43<br />

Die Art und Weise, wie in unserem Interview meine Bereitschaft und Geduld<br />

zur Neige gehen, ich nur noch genervt darauf hinarbeite, dass Frau Tekin<br />

endlich die Wohnung verlässt und ich meine Ruhe habe, verweist entsprechend<br />

nicht nur auf meine individuelle Erschöpfung. Analysiert man<br />

diese subjektive Reaktionsweise hinsichtlich des gesellschaftlichen Kontextes,<br />

stellt man fest, dass ähnliche Verhaltensweisen auch in der Praxis asylrechtlicher<br />

Institutionen beobachtet werden können. Die Abläufe in asylrechtlichen<br />

Institutionen sind oft von Zeitknappheit und ökonomischen<br />

Mängeln beeinflusst. Selten gibt es in Anhörungen eines Asylverfahrens<br />

überhaupt die Möglichkeit, lebensgeschichtliche Besonderheiten ausführlich<br />

darzustellen. Sprachprobleme, die den Ablauf verlangsamen, werden oft als<br />

störend und nervend empfunden, und diese Empfindung wird auf den Antragsteller<br />

übertragen. Selbst wenn DolmetscherInnen hinzugezogen wurden,<br />

wird es schwierig, wenn es nicht gelingt, den Sinn der Aussagen sofort<br />

zu erfassen. Auch in der Betreuungsarbeit von Asylsuchenden ohne gesicherten<br />

Status, die in der Regel mit einem geringen Personalschlüssel geleis-<br />

40 Vgl. Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften [1967], Frankfurt am Main<br />

1992.<br />

41 Vgl. Paul Parin; Fritz Morgenthaler; Goldy Parin-Matthey: Der Widerspruch im Subjekt, Hamburg 1978. – So<br />

nahm der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin in den 1950er und 60er Jahren Bezug auf das Marx’sche Gesellschaftsverständnis,<br />

nachdem eine Gesellschaft nicht etwa eine Summe von Individuen ist, sondern vielmehr<br />

»die Summe der Beziehungen und der Verhältnisse, worin diese Individuen zueinander stehen«. – Ebd.,<br />

S. 42. – Parin erklärt, dass menschliches Verhalten vor allem auf gesellschaftliche Verhältnisse und Beziehungen<br />

zurückzuführen ist und sich diese »gerade dort, wo das Individuum irrational oder unbewusst handelt«<br />

zeigen. – Ebd.<br />

42 Vgl. Maya Nadig; Anne-Françoise Gilbert; Maria Gubelmann; Verena Mühlberger: Formen gelebter Frauenkultur.<br />

Ethnopsychoanlytische Fallstudien am Beispiel von drei Frauengenerationen des Zürcher Oberlandes.<br />

Forschungsbericht an den Nationalfonds, Schweiz 1991, S. 10 f.<br />

43 Vgl. hierzu ausführlicher Antje Krueger: Die Ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt. In: Ulrike Freikamp;<br />

Matthias Leanza; Janne Mende; Stefan Müller; Peter Ullrich; Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Kritik mit Methode?<br />

Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Reihe: Texte der RLS, Bd. 42, Berlin 2008, S. 127-145.<br />

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