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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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kräfftig forttreibet. Die Braut im Liede Salomonis nennets Ziehen: Zeuch<br />

mich dir nach, so lauffen wir; wie man ein Hündlein an der Ketten nach sich<br />

zeucht« 32 .<br />

Diese führende, leitende Kraft sei demnach Gott. Er lasse den Menschen<br />

»nicht allein [...] sinnen, rinnen, tichten, trachten, rathen, sorgen, sondern als<br />

dein Ober-Vormund, der dein Herz mit allen seinen Kräfften in seiner Hand<br />

hat, nach seinem Willen alles richte zu deinem Heyl. Gleich wie man ein kleines<br />

Kind nicht gern allein gehen läst, sondern leitet es bey der Hand, so thut<br />

dir Gott auch«. 33<br />

Die Pastoralmacht, die die innigsten Gedanken eines Menschen zu kennen<br />

sucht, kommt hier ganz deutlich ans Licht. Das stimmt überein mit der<br />

christlichen Metapher vom Menschen als Kind und von Gott als Vater, die<br />

häufig in der Erbauungsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts vorkommt.<br />

Die Metapher wird im Pastoraldiskurs weiterentwickelt und zeigt einige Details.<br />

So führen viele Bücher das Stichwort »Schule« im Titel, zum Beispiel,<br />

die Geistreiche Passions-Schule von Johann Michael Dilherr oder oben zitierte<br />

Creuz- Buß- und Bet-Schule von Heinrich Müller.<br />

Der Mensch ist also unmündig, er braucht eine Erziehung, eine Unterweisung,<br />

manchmal sogar Zucht und Strafe. Aber ein Mensch wird nicht nur<br />

von Gott wie von einem strengen Vater bestraft und erzogen, sondern auch<br />

wie von einer Mutter geliebt: »Gleich ist die Seele einem krancken Kinde,<br />

dem man bald hieher, bald dorthin sein Bette machet, aber man bette es wo<br />

man wil, so hats doch die allerbeste Ruhe in dem Schooß und bei den Brüsten<br />

seiner Mutter« 34 .<br />

Das nächste Bild, das wir ebenfalls in diesem Abschnitt finden, ist das eines<br />

Menschen als Patient_in. Der Mensch wird in den Texten oft als leidendes,<br />

krankes Wesen dargestellt, das einer medizinischen Behandlung bedarf.<br />

Es wurde bereits erwähnt, dass die Erbauungsliteratur im Zeitalter der Krise<br />

eine wichtige Trostfunktion übernimmt. Die Verfasser der Erbauungstexte<br />

sind sich dieser therapeutischen Funktion bewusst. So vergleicht Johann<br />

Gerhard in seinen Meditationes sacrae Theologie mit Medizin. Beide sind für<br />

ihn die praktischen Wissenschaften, die einen Menschen aus seinen körperlichen<br />

und seelischen Leiden befreien wollen. »Hüte dich aber vielmehr treulich<br />

für dem schweren Fall der Sünden; bistu aber je gefallen, so lauffe beyzeiten<br />

zu dem himlischen Seelenartzt Jesu Christo« 35 – schreibt Johann<br />

Michael Dilherr.<br />

32 Heinrich Müller: Göttliche Liebes-Flamme, oder Auffmunterung zur Liebe Gottes durch Vorstellung dessen<br />

unendlichen Liebe gegen uns. Mit vielen schönen Sinnenbildern gezieret und drey nötigen Registern versehen.<br />

[...], Frankfurt am Main 1676, S. 337 f.<br />

33 Ebd., S. 50 f.<br />

34 Ebd., S. 358.<br />

35 Vgl. Johann Gerhard: Meditationes sacrae (1606–1607), lateinisch-deutsch, hrsg. von Johann Anselm Steiger,<br />

Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstadt 2000, S. 351 f.<br />

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