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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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chen sich für eine Historisierung der Offenbarung aus. Das bedeutet, dass sie<br />

die Offenbarung als ein geschichtliches Phänomen begreifen, das sich zu einer<br />

bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, unter bestimmten gesellschaftlichen<br />

Bedingungen ereignet hat.<br />

»Deshalb sind die meisten Gebote Antworten auf gesellschaftliche Fragen<br />

der Zeit Muhammads und nicht eins zu eins auf die Gegenwart anwendbar.<br />

In der Konsequenz meinen sie, dass man notwendigerweise zwei Aspekte<br />

der Offenbarung zu unterscheiden hat: einerseits den Kern der göttlichen<br />

Botschaft und andererseits die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.« 18<br />

Viele Regeln aus der Zeit des Propheten, obgleich im Koran oder in der<br />

Überlieferung erwähnt, sind – nach Auffassung der Reformer – sogenannte<br />

sekundäre Regeln und müssen auf ihre Rationalität und Gerechtigkeit in der<br />

heutigen Gesellschaft hin überprüft werden. Die Vordenker_innen dieser<br />

Gruppe haben sich zum Ziel gesetzt, die Stellung der Frau im Islam neu zu<br />

beleuchten und die islamischen, frauen-orientierten Gesetze genauer zu<br />

klären. Um die Stellung der Frau neu zu definieren bzw. um islamische Alternativen<br />

in Bezug auf die Frauenrechte zu entwickeln, lesen und interpretieren<br />

die Reformer die heiligen Texte neu. In diesem Zusammenhang stellen<br />

sie fest, dass bei der Auslegung der Rechte zwei unterschiedliche Perspektiven<br />

eine Rolle spielen: »Die eine wird von der Offenbarung (Wahy) inspiriert,<br />

die andere steht unter dem Einfluss der jeweils zeitgebundenen Gesellschaftsordnung.<br />

Während die erste eine egalitäre Stimme ist und die Gerechtigkeit<br />

des Islam ausdrückt, ist die zweite eine patriarchalische Stimme, in<br />

der soziale, kulturelle und politische Ideologien zum Ausdruck kommen. Je<br />

mehr sich die Texte des Fiqh von der Zeit und dem Geist der Offenbarung<br />

entfernen, desto stärker wird ihre patriarchalische Stimme.« 19<br />

Bildung und Beruf, das Scheidungsrecht und Fragen des Kopftuchs sind<br />

die Hauptthemen, mit denen Reformer sich im Hinblick auf Frauenrechte<br />

befassen und zu denen sie unterschiedliche Positionen definieren. Verschiedene<br />

von Reformern verfasste Texte lassen erkennen, dass sie die Gleichberechtigung<br />

von Frauen und Männern zwar in manchen Bereichen (zum Beispiel<br />

was den Zugang zu Bildung und Beruf angeht) befürworten, sie aber<br />

gleichzeitig in anderen Bereichen (zum Beispiel in Bezug auf das Scheidungsrecht)<br />

ablehnen. 20<br />

So akzentuiert die reform-orientierte Strömung den Einklang der islamischen<br />

Richtlinien mit Zeit und Raum. Ihrer Meinung nach ist dieser Einklang<br />

aber nur bei sekundären Richtlinien legitim und nicht etwa bei Grundricht-<br />

18 Roman Seidel: Mohammad Modschtahed Schabestari. Die gottgefällige Freiheit. In: Katajun Amirpur; Ludwig<br />

Ammann (Hrsg.): Der Islam am Wendepunkt. Liberale und Konservative Reformer einer Weltreligion,<br />

Freiburg im Breisgau 2006, S. 78.<br />

19 Mirhosseini 2003 (s. Anm. 12), S. 57.<br />

20 Vgl. ebd., S. 69.<br />

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