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Jahrgang 1 / 2011 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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aus, in dessen Rahmen sie durch Willen und (Wett-)Kämpfe zur Körper- und<br />

Lebenskontrolle zu gelangen sucht. Es ist ein Projekt, das zumindest in seiner<br />

Umsetzung als Magersucht scheitern muss, da das Ringen um Autonomie<br />

in der Magersucht vielmehr zu verstärkter Bevormundung führt. 16<br />

Das positive BRCA-Testergebnis ereilt die damals 20-Jährige an einer sogenannten<br />

critical life junction, an der sie gerade beginnt, mit Verlobung und<br />

Studienbeginn einen eigenen Lebensentwurf zu realisieren. Das positive Testergebnis<br />

verstärkt Lisas Ringen um Autonomie, das nun aber nicht mehr<br />

aus der Familie hinaus, sondern in sie hinein weist. Mit anderen Worten: Die<br />

Identifikation mit der familiären Variation führt zu Lisas Identifikation mit<br />

der Familie. Eine deterministische Gen-Deutung, durch die sie sich selbst als<br />

»X-Men« 17 und damit als unwiederbringlich mutiert und unnormal betrachtet,<br />

wird ergänzt durch eine Alternativlosigkeit in Bezug auf die anderen<br />

Deutungsmuster (Körperform, Altersgrenze), die für Lisa als im Sinne der<br />

Altersgrenze zu junge und zudem »mordsbusige« Frau keine Entlastung<br />

bringen können. Zudem bindet sie das ›Familienerbstück‹ BRCA2 unwiderruflich<br />

an ihre Herkunftsfamilie, der sie – als einzige der positiv Getesteten –<br />

keine Wahlfamilie als alternativen Sozialraum entgegensetzen kann.<br />

Damit erscheinen durch den BRCA-Test sowohl (Herkunfts-)Familie als<br />

auch Krebs als quasi unvermeidliche Naturkräfte, was wiederum Lisas widerständigen<br />

Willen herausfordert: Einerseits kämpft die anscheinend gedanklich<br />

bereits Erkrankte mittels Kampfsport »für meinen Körper gegen den Krebs« 18 ,<br />

andererseits profiliert sie sich innerhalb der Familie als aggressiv mahnende<br />

Gesundheitsautorität. Gerade Letzteres hat einen Doppeleffekt: Die gelingende<br />

Präsentation als Autorität fungiert als Selbststabilisierung Lisas, welche<br />

die Gefahr für Leib und Lebensentwurf bannt, aber zugleich auch die familiale<br />

Autorität stabilisiert, da deren Handlungslogik nicht infrage gestellt wird. Dies<br />

steigert die ›Unausweichlichkeit‹ der Herkunftsfamilie als Garant von Autorität<br />

und bezogener Autonomie, was gerade die Entwicklung eines aus der<br />

Herkunftsfamilie herausführenden eigenen Lebensentwurfs verhindert. Das<br />

folgende Zitat präsentiert die für Lisa im positiven BRCA-Testresultat liegende<br />

Lebensentwurfsgefahr, das Angstpotenzial und damit das genetisch verschärfte<br />

Drama der Adoleszenz: als Entscheidung zwischen einem möglichen<br />

Fortbestand der Familie und dem eigenen Weiterleben: »Also ich denk immer,<br />

der schlimmschte Fall wär für mich, wenn ich jetzt schwanger werd und ein<br />

Eierstockkrebs krieg gleichzeitig!, des! isch für mich des al-, des wär für mich<br />

des schlimmschte, weil dann müsste ich mich womöglich entscheiden, ob ich<br />

jetzt das Kind will oder leben will oder irgendwie sowas halt! [amüsiert]« 19<br />

16 Vgl. Salvador Minuchin: Familienkaleidoskop, Reinbek bei Hamburg 1988.<br />

17 Einzelinterview, S. 4.<br />

18 Lisa Schall, Familieninterview, S. 3.<br />

19 Dies., ebd., S. 15.<br />

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