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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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Dido: Herrscherin und Liebende<br />

zutiefst verletzt den Freitod wählte. <strong>Die</strong>se Version findet sich vor allem in<br />

volkssprachlichen episch-romanesken Texten des Mittelalters.<br />

Da Vergils Text im durch die römischen Klassiker geprägten lateinischen<br />

Schulunterricht der Spätantike und des Mittelalters immer präsent war, finden sich<br />

schon früh literarische Adaptierungen. Vor allem im Übergang vom volkssprachli-<br />

chen Epos in den volkssprachlichen Roman erhielt die Figur Didos eine neue Kon-<br />

turierung. ›Antikisierende‹ Romane lösten im Frankreich der zweiten Hälfte des 12.<br />

Jahrhunderts die karolingischen Epenstoffe ab und spielten in der Frühgeschichte<br />

des höfischen Romans eine große Rolle. So konnte der anonyme altfranzösische<br />

Roman d'Enéas 8 zu einem durchschlagenden europäischen Erfolg werden. <strong>Die</strong><br />

Darstellung Vergils wurde ganz in Kontext, Motivik und Problemstellungen der rit-<br />

terlichen Welt des Mittelalters transponiert. Für die Konzeption des amour courtois<br />

wurde die Geschichte der Dido so zu einem wichtigen Exempel. 9 Besonders die<br />

Pflichtvergessenheit des Ritters Enéas wird angeprangert, der wegen seiner un-<br />

kontrollierten Affekte wichtige höfische Normen nicht beachtet. Aber auch Dido, die<br />

durch ihre Schönheit und ihr voreiliges Entgegenkommen den Affektsturm des<br />

Enéas ausgelöst hat, wird schuldig gesprochen und erhält die folgenreiche Konno-<br />

tation einer femme fatale. <strong>Die</strong>se Neufassung des Stoffs setzte sich in den<br />

volkssprachlichen Literaturen durch: Im mittelhochdeutschen Bereich etwa folgte<br />

die Eneït Heinrichs von Veldeke 10 in Handlungsablauf und Wertung weitgehend<br />

dem altfranzösischen Vorbild und damit indirekt auch der Vergilschen Vorlage.<br />

Ganz im Gegensatz zu dieser episch-romanesken Tradition, die ein vor al-<br />

lem negatives Bild Didos zeichnete, rechtfertigte Boccaccio in seinem literarisch<br />

und ikonographisch lange nachwirkenden De claris mulieribus 11 Didos Tod und<br />

griff deshalb erstm<strong>als</strong> auf die andere, von Justinus repräsentierte Traditionslinie<br />

zurück. Er hob ihren christliche Normen erfüllenden Verzicht auf eine zweite Ehe-<br />

schließung hervor und interpretierte den Selbstmord <strong>als</strong> unvermeidliche Folge<br />

eines unlösbaren Wertekonflikts. Um Didos Keuschheit und Treue zum ersten<br />

8 Le Roman d'Enéas, hrsg. u. übers. von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des<br />

romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9).<br />

9 Vgl. Frappier, Jean / Grimm, Reinhold R. (Hrsg.): Le roman jusqu’à la fin du XIII e siècle, Partie historique,<br />

Heidelberg 1978 (Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, IV,1) und Grimm, Reinhold R.<br />

(Hrsg.): Le roman jusqu’à la fin du XIII e siècle, Partie documentaire, Heidelberg 1984 (Grundriss der romanischen<br />

Literaturen des Mittelalters, IV,2); Schnell, Rüdiger: ›Causa amoris‹, Liebeskonzeption und Liebesdarstellung<br />

in der mittelalterlichen Literatur, Bern 1985.<br />

10 Heinrich von Veldeke: Eneasroman, hrsg. u. übers. von D. Kartschoke, Stuttgart 1986.<br />

11 Boccaccio, Giovanni: Tutte le Opere, hrsg. von Vittore Branca, Milano 2 1970, Bd. X: De mulieribus claris,<br />

XLII, De Didone, S. 168-183.<br />

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