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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

per ante oculos habendus, ut sic tanquam illo spectante vivamus, et omnia<br />

tanquam illo vidente faciamus. 112<br />

Vorbildliche Handlungen ebenso wie der direkte oder indirekte Umgang mit moralischen<br />

Autoritäten beeinflussen die Lebensführung und führen zur philosophischen<br />

Selbsterforschung (e x a m e n ), die Lipsius in Anlehnung an die Beichtpraxis in zwei<br />

Vorgehensweisen differenziert: kritische Befragung durch andere – der pädagogischen<br />

Wirkung wegen möglichst im Beisein von Dritten – oder persönliche Gewissenserforschung.<br />

113<br />

Quod hodie malum tuum sanasti? Cui vitio obstitisti? Qua parve melior<br />

es? 114<br />

In der täglich einzuübenden philosophischen Lebensform mit ihren Strategien des<br />

exemplum, der conversatio und des examen konnten die stoischen exempla der Historienmalerei<br />

antike Vorbilder visualisieren, <strong>als</strong> Gesprächsstoff unter Freunden dienen<br />

und die Richtschnur eigenen Handelns bilden. 115<br />

Da die emotionale Aneignung vorbildlichen Handelns für die eigene Lebensführung<br />

zur von den Neustoikern propagierten Lebensform gehörte, könnte die Ikonogra-<br />

phie der Tugendhelden in der neustoischen Ausrichtung der frühneuzeitlichen Eli-<br />

ten durchaus eine ihrer Begründungen finden. <strong>Die</strong> neustoischen Techniken der<br />

Selbstvergewisserung, die sich analog zur nachtridentinischen Beichtpraxis an<br />

exempla orientierten, führten zu den ersten Formen profaner Andachtsbilder. Bei-<br />

spiele vorbildlichen Sterbens waren für den Neustoizismus und die nachtridentini-<br />

sche Frömmigkeitspraxis in vergleichbarer Weise wichtig. Deshalb erfreute sich<br />

das Einfigurenbild im Themenbereich des ›profanen Sterbens‹ besonderer Belieb-<br />

theit. Gerade das ›reduzierte‹, <strong>als</strong>o sich auf den Ausschnitt beschränkende und<br />

durch Nahsicht mehr auf die Emotionen des Betrachters zielende Sterbebild erfüll-<br />

te seine Verweisfunktion besonders gut. Es lenkte nicht durch große historische<br />

112 ›Der Umgang mit Philosophen ist in der Tat nützlich: und du profitierst von einem großen Mann, selbst<br />

wenn er schweigt. Er ist selbst eine Hilfe oder doch die Vorstellung, die wir von ihm haben. Folge <strong>als</strong>o der<br />

Ermahnung Senecas: ‚Man muss ein moralisches Vorbild wählen und immer vor Augen haben, um sozusagen<br />

unter seinen Blicken zu leben und nur unter seiner Aufsicht zu handeln.’‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam<br />

III,24 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 819)<br />

113 »Dupliciter adhiberi potest, ab aliis, ut a sese.« (›<strong>Die</strong> kritische Selbsterforschung kann von anderen oder<br />

vom Philosophen selbst durchgeführt werden.‹) (Manuductio ad stoicam philosophiam III,24 in: Opera omnia,<br />

a.a.O., Bd. 4,2, S. 820)<br />

114 ›Welche deiner Schwächen hast du heute überwunden? Welchem Laster hast du widerstanden? Welche<br />

kleinen moralischen Fortschritte hast du gemacht?‹ – Am Beispiel Senecas lässt sich die tägliche Gewissenserforschung<br />

<strong>als</strong> elementare Grundlage moralischer Fortschritte demonstrieren: »Utor, inquit, hac potestate, et<br />

cottidie apud me causam dico. Cum sublatum est lumen, et conticuit uxor moris mei iam conscia, totum diem<br />

mecum scrutor, facta et dicta mea remetior. Nihil mihi ipse abscondo, nihil transeo.« (›Seneca sagt: Ich nutze<br />

diese Möglichkeit und gehe täglich mit mir zu Rate. Wenn das Licht gelöscht ist und meine Frau, die meine<br />

Gewohnheit schon kennt, schweigt, gehe ich den ganzen Tag mit mir durch und beurteile meine Taten und<br />

Worte nochm<strong>als</strong>. Nichts verberge ich vor mir, nichts übergehe ich.‹ [Manuductio ad stoicam philosophiam III,24<br />

in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 820])<br />

115 <strong>Die</strong> von Lipsius vorgeschlagenen Strategien moralischer Selbstprüfung leiten sich aus dem zentralen Begriff<br />

der stoischen Anthropologie und Ethik, der Oikeiosis, ab. Sie stellt Fremdes (ἀλλότριον) und Eigenes<br />

(οἰκεῖον) gegenüber und versteht die moralische Selbstfindung des Menschen (secundum naturam vivere) <strong>als</strong><br />

Vermeidung der Fremdbestimmung (vitia) und Verstärkung der Autonomie (virtutes). Seneca hat sich ausführlich<br />

mit diesem Grundproblem stoischer Ethik beschäftigt (ep. mor. 121).<br />

201

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