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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

rung der politischen Gegner des Herrschers ein, die sich freiwillig oder gezwungen<br />

töteten. Solch ›inszeniertes Sterben‹ brachte ihre politische und moralische Haltung<br />

enkomiastisch auf den Begriff. In den antiken Kompilationen wurden exempla nach<br />

einem festgelegten Muster stilisiert: Der Sterbende rechtfertigt seinen Freitod mit<br />

philosophischen ›Vorgängern‹ wie Sokrates und Cato, spricht den Zurückbleibenden<br />

Trost zu, dankt den Göttern und deutet sein Handeln <strong>als</strong> Schritt in die Freiheit.<br />

Tacitus etwa hat herausragende Vertreter der kaiserzeitlichen, antimonarchistischen<br />

Nobilität mit ausgefeilten Darstellungen solch ›tugendhaften‹ Sterbens ausgezeichnet.<br />

Seine Schilderungen erzwungener oder freiwilliger Selbstmorde deuten<br />

das ›Protokoll‹ der Todesstunde <strong>als</strong> endgültige Bewährung eines philosophischen<br />

oder politischen Lebenslaufs.<br />

Der vorbildliche Tod gibt, wie es später der Kirchenvater Ambrosius prägnant for-<br />

mulieren wird, ein testimonium vitae 87 . Unter veränderten Vorzeichen wurde das<br />

antike Formular von den spätantiken Märtyrerakten übernommen, obwohl sich auf<br />

den ersten Blick der ›inszenierte Selbstmord‹ schwerlich in einen christlichen Kon-<br />

text übertragen ließ. 88<br />

[Märtyrer- und Barockdrama] <strong>Die</strong> neustoischen Modelle exemplarischen Sterbens be-<br />

einflussten über alle Konfessionsgrenzen hinaus das Drama der Frühen Neuzeit.<br />

Besonders im Jesuitendrama und in der Barocktragödie, die vorwiegend auf my-<br />

thologische und historische Stoffe der Antike zurückgriff, konnte die neustoische<br />

Konzeption in ›dramatischen‹ Gewand strategisch eingesetzt werden, um den<br />

sterbenden Protagonisten in der letzten Szene zum Ideal heroischen und damit<br />

gleichzeitig philosophischen oder christlichen Sterbens zu überhöhen.<br />

Barocke Tragödien verdichten das Lebensgefühl der Zeitgenossen und er-<br />

proben an antiken Modellen die angemessenen Verhaltensweisen in extremen Si-<br />

tuationen. Vorbildliches Verhalten im ›Verhängnis‹ wird der Maßstab für die Beur-<br />

teilung einer Figur. Erst in der Katastrophe kann der Mensch seine wahre Größe<br />

zeigen und seine ›Rolle‹ voll ausspielen. Das barocke Lebensgefühl, das dem<br />

Menschen den Eindruck vermittelte, Akteur im theatrum mundi 89 zu sein und Beifall<br />

zu erhalten, ist eine wichtige Voraussetzung, will man die psychologischen Strate-<br />

gien des Neustoizismus verstehen. Da vor dem Tod kein Entkommen ist, kommt es<br />

darauf an, ihn mit virtus zu bestehen; für jeden, der in diesem großen Spiel mits-<br />

pielt, ist der Beifall der Umwelt und der Nachwelt das Wichtigste. der den europä-<br />

ischen Neustoizismus prägte, war das Leben und Handeln im <strong>Die</strong>sseitigen; das,<br />

was alle sehen und beurteilen konnten – Taten und Geisteshaltung – waren Ge-<br />

87<br />

»Mors igitur vitae est testimonium.« (›Der Tod legt Zeugnis für das Leben ab‹.) (Ambrosius, De bono mortis<br />

VIII,35)<br />

88<br />

Dazu Ronconi, A.: »exitus illustrium virorum« in: RAC VI, Stuttgart 1966, Sp. 1258-1268.<br />

89<br />

Alewyn, Richard: Das große Welttheater, <strong>Die</strong> Epoche der höfischen Feste, Berlin 1985.<br />

195

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