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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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IX Von der vertu zum Affekt<br />

reits bei einer extensiven Recherche im Werk des bekanntesten Kantatenkomponisten,<br />

Alessandro Scarlatti (1660-1725), dem über achthundert Kantaten-<br />

Arrangements 56 zugeschrieben werden, finden sich Soprankantaten mit Titeln wie<br />

La Sofonisba, Didone abbandonata, Lucretia oder Cleopatra. 57 Auch bei Benedetto<br />

Marcello (1686-1739) erscheinen neustoische Themen häufig: unter den über fünfzig<br />

überlieferten Kantaten gibt es einen Catone, eine Lucrezia und eine Didone abbandonata.<br />

58<br />

<strong>Die</strong> in ganz Europa reüssierenden Kammerkantaten (cantata da camera, scena da<br />

camera) 59 galten <strong>als</strong> geistvolle Kreation (musica riservata) 60 für vornehme und gebildete<br />

Rezipienten. 61 Sie wurden wohl <strong>als</strong> ›kleine Oper‹ verstanden; so hatten die<br />

Kantaten besonders nach dem 1703 im päpstlichen Rom verhängten Opernverbot<br />

großen Erfolg. Meist wurden sie von bekannten Opernkomponisten arrangiert; in<br />

Italien umfasste die Komponistenliste von Stradella über Scarlatti und Pergolesi alles,<br />

was Rang und Namen in der Musikwelt hatte. Vergleichbares gilt für Frankreich,<br />

England, Spanien und Deutschland. <strong>Die</strong> Kantatenthemen reichten vom Lamento<br />

unglücklicher Liebender über mythologische und idyllische Szenen bis zu Affektdarstellungen.<br />

Letztere, aber auch die thematische Nähe zur Oper und der gebildete<br />

Adressatenkreis können erklären, warum das Motiv des ›schönen Sterbens‹<br />

ein wichtiges Thema für Kammerkantaten wurde. Als signifikantes Beispiel mag in<br />

unserem Zusammenhang Händels Lukrezia (HWV 145), seine wohl erfolgreichste,<br />

noch heute häufig aufgeführte Kammerkantate, näher betrachtet werden. 62<br />

Händels Lukrezia<br />

<strong>Die</strong> in Händels italienischen Jahren entstandene Lukrezia-Kantate greift gleichsam<br />

die ultima scena einer Oper auf und komprimiert die Affektdarstellung in einer der<br />

theatralischen Attitüde 63 durchaus vergleichbaren Weise. 64<br />

<strong>Die</strong> Kantate stellt die Klage der sterbenden Lukrezia dar und gliedert sich in zwei<br />

große Abschnitte: Im ersten mit zwei Rezitativen und zwei Arien ruft Lukrezia die<br />

Götter dazu auf, die Untat des Tarquinius zu bestrafen. Eine rückwärts gewandte<br />

<strong>Die</strong> im 17 und 18. Jahrhundert publizierten Kammerkantaten lassen keine verlässlichen Schlüsse über den<br />

Themenbereich der neuen Gattung zu.<br />

56 Hanley, Edwin: »Alessandro Scarlatti«, in: 1 MGG, Bd. 11, München 1989, S. 1482-1506 und Jakoby, Ri-<br />

chard: a.a.O., S. 11.<br />

57 Hanley, a.a.O., S. 1490, 1491 und 1494.<br />

58 Dazu Schmitz, a.a.O., S. 151 und 153.<br />

59 <strong>Die</strong>se Bezeichnungen wurden neben cantata a voce sola gebraucht (Brandenburg, Gottfried Daniel: Zur<br />

Geschichte der weltlichen Solokantate in Neapel im frühen Settecento, <strong>Die</strong> Solokantaten von Domenico Sarro<br />

(1679-1744), Frankfurt/Bern/New York/Paris 1991, S. 27f.).<br />

60 Engel, Hans: Kantate, in: 1 MGG, Bd. 7, München 1989, S. 554.<br />

61 Ein im Aufbau befindlicher nützlicher kommerzieller Link: http://www.baroquecantata.com (zuletzt aufgeru-<br />

fen: 12.04.2007)<br />

62 H ä n d e l hat die häufig nach den Anfangsworten O numi eterni zitierte Kantate wohl nach 1706 in Florenz<br />

für Lucrezia d'André, die Primadonna des toskanischen Hofes, geschrieben (Händel-Handbuch [hrsg. von<br />

Eisen, Walter / Eisen, Margret], Bd. 2, Leipzig 1984, S. 566.). Als Textautor gilt Benedetto Pamphili (so z. B. im<br />

Programmheft eines Konzerts des Giardino Armonico mit Eva Mei am 31.10.1999 in Hannover). Der Kardinal<br />

war einer der bekannten italienischen Förderer Händels und hat auch das Textbuch zum Oratorium Il Trionfo<br />

del Tempo e della Verità verfasst. Dass Benedetto M a r c e l l o seiner Lukrezia-Kantate die gleichen Verse<br />

zugrunde legte, entspricht einer verbreiteten Praxis (vgl. Engel, Hans: Kantate, 1 MGG, Bd. 7, S. 561). Zu den<br />

beiden, oft nicht zu trennenden Brüdern Alessandro Marcello (1684-1750) und Benedetto Marcello (1686-<br />

1739) Giegling, Franz: »Marcello«, in: 1 MGG, Bd. 8, S. 1616-1619. Ein Vergleich mit Kantaten Scarlattis bei<br />

Mayo, John S. M.: »Zum Vergleich des Wort-Ton-Verhältnisses in den Kantaten von <strong>Georg</strong> Friedrich Händel<br />

und Alessandro Scarlatti«, in: G. F. Händel und seine italienischen Zeitgenossen, hrsg. von Walther-Siegmund<br />

Schultze, Halle 1979, S. 31-44).<br />

63 Vgl. unten S. 294.<br />

64 <strong>Die</strong> Kantate besteht aus vier Rezitativen, drei Arien und einem abschließenden, in einem Furioso endenden<br />

Arioso. (Vgl. Schmitz, Eugen: Geschichte der Kantate und des geistlichen Konzerts, Hildesheim / Wiesbaden<br />

1966 [ND der Ausgabe Leipzig 1914], S. 253.) Ungewöhnlicherweise übernimmt in der dritten Arie das begleitende<br />

Cembalo oder der Basso continuo die Hauptmelodie selbständig. An die gesanglichen Leistungen der<br />

Sopranistin stellt das Stück ohnehin höchste Ansprüche.<br />

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