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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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IX Von der vertu zum Affekt<br />

ἀλλὸ γένος und wurde zu einem bevorzugten, wenn auch umgedeuteten Vorwurf<br />

der Attitüden.<br />

<strong>Die</strong> wortlose Kunstform der Attitüden gehört ebenso wie die Monodramen in die<br />

Epoche der Empfindsamkeit. Im Gegensatz zu Monodramen waren Attitüden aller-<br />

dings für ein kleines, ausgesuchtes und intimes Publikum bestimmt. Goethes be-<br />

richtet in seiner Italienischen Reise früh über solche Attitüdeninszenierungen:<br />

Wenn man in Rom gern studieren mag, so will man hier [Neapel] nur leben; man<br />

vergißt sich und die Welt und für mich ist es eine wunderliche Empfindung nur mit<br />

genießenden Menschen umzugehen. Der Ritter Hamilton, der noch immer <strong>als</strong> englischer<br />

Gesandter hier lebt, hat nun, nach so langer Kunstliebhaberei, nach so langem<br />

Naturstudium, den Gipfel aller Natur- und Kunstfreude in einem schönen Mädchen<br />

gefunden. Er hat sie bei sich, eine Engländerin von etwa zwanzig Jahren. Sie<br />

ist sehr schön und wohl gebaut. Er hat ihr ein griechisch Gewand machen lassen,<br />

das sie trefflich kleidet, dazu löst sie ihre Haare auf, nimmt ein paar Shawls und<br />

macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden, Mienen etc., daß man zuletzt<br />

wirklich meint man träume. Man schaut, was so viele tausend Künstler gerne geleistet<br />

hätten, hier ganz fertig, in Bewegung und überraschender Abwechslung.<br />

Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch, ausschweifend, bußfertig,<br />

lockend, drohend, ängstlich etc. eins folgt aufs andere und aus dem andern. Sie<br />

weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln, und<br />

macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält<br />

das Licht dazu und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand ergeben. Er findet<br />

in ihr alle Antiken, alle schöne Profile der Sicilianischen Münzen, ja den Belvederschen<br />

Apoll selbst. Soviel ist gewiß, der Spaß ist einzig! Wir haben ihn schon<br />

zwei Abende genossen. 101<br />

Als Emma Hart zwei Monate später erneut »ihre musikalischen und melischen Ta-<br />

lente« präsentierte, entdeckte Goethe den klassizistischen Hintergrund der Inven-<br />

tion und zugleich den Bildcharakter der Attitüden, die »antike Gemälde« und<br />

»selbst neuere Meisterwerke« ›aufführten‹ und deshalb im Grunde eines Rahmens<br />

bedurften. 102<br />

Exkurs: Illuminationen, ›lebende Bilder‹ und Attitüden<br />

<strong>Die</strong> Attitüden waren keine Invention der Lady Hamilton. <strong>Die</strong> seit 1782 für die Erziehung<br />

der königlichen Kinder verantwortliche aristokratische Schriftstellerin Stéphanie-Félicité<br />

de Genlis (1746-1830) hat wohl <strong>als</strong> erste ›lebende Bilder‹ und Attitüden<br />

einstudiert, wobei sie sich gelegentlich der Hilfe des Malers Jacques-Louis David<br />

(1748-1825) versicherte. Das neue Inszenierungsmuster unterhielt den Hofadel in<br />

101 Italienische Reise, 16. März 1787; MA, Bd. 15, S. 257-258.<br />

102 »Auffallend war mir ein aufrechtstehender, an der Vorderseite offener, inwendig schwarzangestrichener<br />

Kasten, von dem prächtigsten goldenen Rahmen eingefaßt. Der Raum groß genug um eine stehende menschliche<br />

Figur aufzunehmen, und dem gemäß erfuhren wir auch die Absicht. Der Kunst- und Mädchenfreund,<br />

nicht zufrieden das schöne Gebild <strong>als</strong> bewegliche Statue zu sehen, wollte sich auch an ihr <strong>als</strong> an einem bunten,<br />

unnachahmbaren Gemälde ergötzen und so hatte sie manchmal innerhalb dieses goldenen Rahmens, auf<br />

schwarzem Grund vielfarbig gekleidet, die antiken Gemälde von Pompeji und selbst neuere Meisterwerke<br />

nachgeahmt. <strong>Die</strong>se Epoche schien vorüber zu sein, auch war der Apparat schwer zu transportieren und ins<br />

rechte Licht zu setzen; uns konnte <strong>als</strong>o ein solches Schauspiel nicht zu Teil werden.« (Italienische Reise, 27.<br />

Mai 1787; ebd., S. 403)<br />

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