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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

dis beeinflusste Mussato die frühhumanistische Konzeption der literarischen Gattungen<br />

und noch bis ins späte 18. Jahrhundert die europäische Dramenproduktion.<br />

Dabei ist es von Bedeutung, dass Mussatos Tragödie Ecerinis in der Nachfolge von<br />

Senecas Octavia einen zeitgenössischen politischen Konflikt aufgriff. 17 <strong>Die</strong> stoische<br />

Anthropologie der Tragödien Senecas und ihre Darstellung der Affekte wurden für<br />

lange Zeit modellbildend.<br />

Das moralphilosophische Interesse an Seneca wurde 1470 durch den beeindruckenden<br />

Lebens- und Sterbebericht in den Annalen (XV,60-64) ergänzt und<br />

aufgewertet. Es ist nicht erstaunlich, dass sich <strong>als</strong>bald das Interesse auf Tacitus<br />

richtete, bei dem sich zahlreiche kaiserzeitliche Paradigmen stoischer Lebensführung<br />

finden ließen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren alle überlieferten Schriften<br />

des Tacitus gedruckt 18 und standen einem größeren Publikum zur Verfügung. 19<br />

Neben der philologischen Editionsarbeit und Kommentierung setzte sofort eine produktive<br />

imitatio ein, die sich zum Beispiel bei deutschen Humanisten wie Conrad<br />

Celtis (1459-1508) und Beatus Rhenanus (1485-1547) auf die Germania konzentrierte.<br />

In Frankreich 20 lassen sich intensive Beschäftigung und Auseinandersetzung<br />

mit Tacitus bei Michel de Montaigne (1533-1592), Marc Antoine Muret (1526-1585),<br />

Etienne de la Boétie (1530-1563), Claude Fauchet (1530-1601) und Jean Bodin<br />

(1529-1596) nachweisen. In Italien trifft man vor allem bei Niccolò Machiavelli<br />

(1469-1527) in seinen Schriften Il principe (1513) und Discorsi sulla prima deca di<br />

Tito Livio (1531) auf Spuren einer gründlichen Auseinandersetzung mit Tacitus. In<br />

ganz Europa entwickelte sich so mit der philologischen und historischen Beschäftigung<br />

mit Tacitus eine kritische Adaption, die zur Entstehung des Neustoizismus<br />

beitrug.<br />

Exkurs (2): Justus Lipsius <strong>als</strong> Leitfigur des Neustoizismus<br />

Nach dem Gesagten überrascht es nicht, dass der niederländische Humanist Justus<br />

Lipsius 21 , der zur Leitfigur des Neustoizismus werden sollte, sich zu Beginn seiner<br />

Laufbahn philologisch mit Tacitus und Seneca beschäftigte. Er besorgte 1574<br />

eine Ausgabe des Tacitus, ließ ihr 1581 einen Kommentar folgen und edierte 1605<br />

die Werke Senecas. So kann er <strong>als</strong> Prototyp eines zunächst textkritisch arbeitenden<br />

Philologen und Redakteurs gelten, der erst in einer zweiten Phase der Auseinandersetzung<br />

und Aneignung zum Philosophen wurde; er selbst sah seine Ent-<br />

17 Den literarischen Ruhm, den die Tragödie dem Autor einbrachte, führte bekanntlich zur ersten Dichterkrönung<br />

der Neuzeit, <strong>als</strong> Mussato Weihnachten 1315 zum poeta laureatus ausgerufen wurde.<br />

18 Editio princeps der Schriften des Tacitus 1470 von Vindelino de Spira (Venedig).<br />

19 Tacitus, dessen Lektüre in deutschen Klöstern des 9. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann, hat eine<br />

ungemein schwierige Überlieferungs- und Wiederentdeckungsgeschichte, deren einzelne Phasen oft einem<br />

Kriminalfall ähneln. Es begann damit, dass der heute Mediceus II genannte Codex (Florenz Laurent. 68 II), der<br />

um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Montecassino geschrieben wurde, von Boccaccio und seinem Freundeskreis<br />

zwischen 1357 und 1363 entdeckt, gestohlen und nach Florenz gebracht wurde. Der <strong>Die</strong>bstahl war durch<br />

die Erwartung motiviert, Tacitus gebe in seinen Annales und Historiae wichtige Informationen und Kommentare<br />

zum römischen Prinzipat. Schon 1403 zitiert Bruni Tacitus, um seinen ›Bürger-Humanismus‹ zu untermauern.<br />

Der Codex Hersfeldensis, der neben der Germania die Vita Agricolae und den Dialogus enthält, wurde wohl im<br />

9. Jahrhundert im Kloster Fulda geschrieben. Über einen Hersfelder Benediktinermönch lernte ihn der Humanist<br />

und päpstliche Sekretär Poggio Bracciolini während des Konstanzer Konzils kennen und brachte ihn, wohl<br />

durch Bestechung, nach Rom. Hier wurde die Handschrift abgeschrieben und weiterverkauft, um erst 1902<br />

wiedergefunden zu werden. Als 1470 die erste Ausgabe des Tacitus erschien, enthielt sie die Germania und<br />

den Dialogus, die Historiae und einen Teil der Annalen (XI-XVI). 1476 wurde die Ausgabe um die Biographie<br />

des Agricola ergänzt. Der Codex Mediceus I, in einem Skriptorium des 9. Jahrhunderts geschrieben und die<br />

Bücher I bis VI der Annalen enthaltend, wurde von Giovanni de' Medici, seit 1513 <strong>als</strong> Leo X. Papst, erworben,<br />

vom Kloster Corvey nach Rom gebracht und von Beroaldus 1515 veröffentlicht.<br />

20 Für den Bereich der Romania: Stackelberg, Jürgen von: Tacitus in der Romania, Studien zur literarischen<br />

Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, Tübingen 1960.<br />

21 Über den Forschungsstand zu Lipsius vgl. Oestreich, Gerhard, a.a.O., S. 43-47 und Abel, Günter: Stoizismus<br />

und Frühe Neuzeit, Berlin / New York 1978, S. 67-72. – Ich zitiere im Folgenden Lipsius nach dem 2001<br />

erschienenen Nachdruck der Gesamtausgabe: Lipsius, Justus: Opera omnia, 4 Bde in 8 Teilen, Wesel 1675<br />

(ND Hildesheim / Zürich / New York 2001). Der Nachdruck behält die fehlerhafte Paginierung des Origin<strong>als</strong> bei.<br />

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