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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

zuordnen, deren Anthropologie er <strong>als</strong> einer der theologischen Vordenker der Re-<br />

formation ablehnen musste. Vielleicht hatte Calvin scharfsichtig erkannt, dass sich<br />

in dieser philosophischen Unterströmung eine die entstehende Konfessionalisie-<br />

rung unterlaufende moralische Normbildung manifestierte. <strong>Die</strong> Forschung hat sich<br />

mit dieser politisch-kulturellen Bedeutung des Neustoizismus in der Frühen Neuzeit<br />

bisher nur in Teilaspekten auseinandergesetzt. So fand die wohl einflussreichste<br />

Persönlichkeit des sich herausbildenden Neustoizismus, Justus Lipsius (1547-<br />

1606), in der Forschung bisher meist nur wegen seiner Rolle in der Entwicklung<br />

des neuzeitlichen Staatsrechts Beachtung. 7 In diesem Zusammenhang wurde al-<br />

lerdings dem überkonfessionellen neustoischen Wertekanon kaum Aufmerksam-<br />

keit geschenkt, den Lipsius und andere am Modell der kaiserzeitlichen Historiogra-<br />

phie entwickelt haben, obwohl dieser Kanon für das Drama 8 der frühen Neuzeit<br />

(und damit für die Historienmalerei) geradezu konstitutiv wurde.<br />

Exkurs (1): <strong>Die</strong> moralphilosophische Wende im frühneuzeitlichen Humanismus<br />

Natürlich waren die zentralen Thesen der Stoa immer bekannt und präsent geblieben,<br />

zumal sie seit ihrer kritischen Rezeption durch die Theologie der Alten Kirche<br />

in den Traditionszusammenhang der Spätantike und des Mittelalters 9 gehörten.<br />

Gleichwohl entwickelte sich im 16. Jahrhundert auf verschlungenen Wegen eine<br />

Neuentdeckung der Stoa, die geradezu zur konfessionsübergreifenden Leitphilosophie<br />

wurde und zu einer moralphilosophischen Wendung des frühneuzeitlichen<br />

Humanismus führte. Aus heutiger Sicht entwarf die neustoische Wendung zur praktischen<br />

Philosophie, die ohne Rückbindung an ein großes philosophisches System<br />

auskam, erste Ansätze einer modernen Ethik und bewirkte eine Umorientierung,<br />

deren Folgen in der bildenden Kunst und im Theater der frühen Neuzeit unübersehbar<br />

sind.<br />

Zu den wichtigen Voraussetzungen der frühneuzeitlichen Renaissance der<br />

Stoa gehörte die Revision der Cicero-Rezeption, die sich im Frühhumanismus vor<br />

allem für Ciceros Rhetorik und seine Vermittlung platonischer und aristotelischer<br />

Philosophie 10 interessiert hatte. Erst die Entdeckung der Briefsammlungen rückte<br />

7 Oestreich, Gerhard: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547Ŕ1606), Der Neostoizismus<br />

<strong>als</strong> politische Bewegung, Göttingen 1989; Abel, Günter: Stoizismus und Frühe Neuzeit, Zur Entstehungsgeschichte<br />

modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin / New York 1978; Evans, Robert C.: Lipsius<br />

and the Politics of Renaissance Stoicism, Longwood 1992.<br />

8 Zum Beispiel Schings, Hans-Jürgen: <strong>Die</strong> patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius: Untersuchungen<br />

zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, Köln 1966; Barner, Wilfried: Produktive Rezeption:<br />

Lessing und die Tragödien Senecas, München 1973; Barner, Wilfried: Barockrhetorik: Untersuchungen zu<br />

ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970; Plume, Cornelia: Heroinen in der Geschlechterordnung,<br />

Wirklichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die 'Querelle des Femmes', Stuttgart/Weimar<br />

1996. Zur französischen Klassik und Corneille: Paul Bénichou, Morales du grand siècle, Paris 1948 u.ö.;<br />

Jacques Maurens, La tragédie sans tragique, Le néo-stoïcisme dans l’œuvre de Pierre Corneille, Paris 1966.<br />

9 Trotz des zum Diktum avancierten Graeca non leguntur wurden Grundkenntnisse griechischer Philosophie vor<br />

allem über die philosophischen Schriften Ciceros ins Mittelalter tradiert, in denen der Eklektiker Begriffe der<br />

antiken Philosophenschulen ins Lateinische vermittelt hatte. Vgl. vor allem Courcelles, Pierre: Les lettres<br />

grecques en occident, De Macrobe à Cassiodore, Paris 2 1948.<br />

10 Für den europäischen Humanismus war Cicero zunächst vor allem <strong>als</strong> Muster römischer Beredsamkeit wichtig.<br />

Schon <strong>August</strong>inus hatte ihm in De doctrina christiana neben Vergil eine Rolle im Kanon christlicher Bildung<br />

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