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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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IX Von der vertu zum Affekt<br />

<strong>Die</strong> Verfahren der ›lebenden Bilder‹ und ›Illuminationen‹ wurden von den A t t i t üden<br />

gesteigert; sie ermöglichten eine noch intensivere Vergegenwärtigung der Antike,<br />

weil sie stets <strong>als</strong> Serien einstudiert wurden. Eine isolierte Attitüde genügte<br />

nicht; immer wurde eine Reihe unterschiedlicher Posen hintereinander eingenommen,<br />

so dass Horace Walpole, <strong>als</strong> er 1791 maliziös die nicht standesgemäße Verehelichung<br />

des britischen Diplomaten mit Emma Hart kommentierte, dieses Reihungsprinzip<br />

hervorhob: »Sir William Hamilton has actually married his gallery of<br />

statues.« 110 Aufzeichnungen verschiedener Teilnehmer an derartigen Veranstaltungen<br />

belegen, dass Attitüden meist auf Gefühlskontraste abzielten: <strong>Die</strong> Verzweiflung<br />

der Niobe ging in den Rausch einer Bacchantin über, die sich in eine ruhende<br />

Sphinx verwandelte, um wenige Minuten später in eine sterbende Kleopatra umgeformt<br />

zu werden.<br />

In das Stammbuch der Attitüdenkünstlerin Hendel-Schütz (1772-1849) hat der<br />

Dichter Zacharias Werner ein langes Huldigungspoem 111 eingetragen, das detailliert<br />

über die Verfahren der Künstlerin unterrichtet. Sie stellte zunächst Isis, eine Sphinx<br />

und Galathea dar, um danach Maria bei der Verkündigung, unter dem Kreuz, <strong>als</strong><br />

Pietà und bei der Himmelfahrt zu inszenieren. Den Abschluss dieser Serie bildeten<br />

die antiken Frauenfiguren Pythia, Kleopatra, Virginia, Arria und Kassandra. Gegensätzliche<br />

Seelenzustände in kurzer Zeit überzeugend vorzustellen und damit beim<br />

Publikum Tränen hervorzurufen, galt <strong>als</strong> höchstes Ziel der künstlerischen Performance.<br />

Krise oder Kairos einer mythologischen oder historischen Figur zu veranschaulichen,<br />

blieb zentrale Aufgabe der hybriden Kunstform. 112<br />

Friedrich Rehbergs (1758-1835) Zeichnungen geben einen, wenn auch unvollstän-<br />

digen, Eindruck davon, über welches Attitüdenrepertoire Lady Hamilton verfügte;<br />

sie wurden schon 1794 von Tommaso Piroli (um 1752-1824) <strong>als</strong> Umrisse in Flax-<br />

mans Art gestochen: eine Sybille, Maria Magdalena [Abb. 2], eine verliebte einsame<br />

Träumerin, Sophonisbe, Amymone, eine Muse des Tanzes, Iphigenie, eine Nym-<br />

phe, eine Priesterin, Kleopatra [Abb. 3], die Heilige Rosa und Niobe [Abb. 4]. 113 In<br />

ganz Europa sorgte die graphische Dokumentation der Attitüden der Lady Hamil-<br />

Gluth, der hin- und herschwankende Schatten. All das Große, das Erhabene trat doppelt siegreich und majestätisch<br />

in die Erscheinung, und manches früher Uebersehene entzückte jetzt; so die Gruppe eines Ehepaares,<br />

das sich die Hände reicht. Etwas Innigeres kann man kaum sehen; Rauch hat denn auch später diese Idee<br />

zum Grabmale des Niebuhrschen Ehepaares benutzt.« (Kaufmann, Sylke [Hrsg.]: Goethes Malerin, <strong>Die</strong> Erinnerungen<br />

der Louise Seidler, Berlin 2003, S. 244)<br />

110 Das Zitat stammt aus einem am 11.9.1791 verfassten Brief Walpoles an Marry Berry. (vgl. Ittershagen,<br />

a.a.O., S. 41). Lady Hamilton weckte in der europäischen Gesellschaft auch später noch eine gewisse Sensationslust.<br />

Karoline Jagemann berichtet von einer Einladung bei der Familie von Arnstein während ihrer Wiener<br />

Ausbildungszeit <strong>als</strong> Sängerin: »In ihrer hübschen Behausung sah man täglich Fremde aus allen Ländern, auch<br />

Lord Nelson mit der durch ihre Attitüden bekannten Lady Hamilton wurde erwartet. Nach vielen Stunden der<br />

Ungewissheit, ob die Herrschaften der Einladung Folge leisten würden, erschienen sie endlich; Nelson, ein<br />

kleiner, magerer Mann mit einem Auge und einem Arm, dem man den Helden nicht ansah, Lady Hamilton eine<br />

hohe, stattliche Gestalt mit dem Kopfe einer Pallas, hinter ihm drein, seinen Hut unter dem Arme tragend. Sie<br />

blieben den ganzen Abend und ließen ihre Wirte in der größten Satisfaktion über die ihnen gewordene Ehre<br />

zurück.« In: <strong>Die</strong> Erinnerungen der Karoline Jagemann, hrsg. von Eduard von Bamberg, Dresden 1926, S. 151-<br />

152.<br />

111 Schütz, Karl-Friedrich Julius: Blumenlese aus dem Stammbuche der deutschen mimischen Künstlerin Frau<br />

Henriette Hendel-Schütz, gebornen Schüler, Leipzig / Altenburg 1815, S. 27-35.<br />

112 Renis Halbfigurenbilder, die sich auf einen Affekt konzentrierten und durchaus <strong>als</strong> Serien verstanden werden<br />

können, erproben bereits Verfahren der Reduktion, wie sie später in den Attitüden üblich wurden.<br />

113 <strong>Die</strong> Serie erschien 1794 in Rom unter dem Titel: Friedrich Rehberg & Tommaso Piroli: Drawings Faithfully<br />

copied from Nature at Naples and with permission dedicated to the Right Honourable Sir William Hamilton.<br />

Katalog 303 und 304.<br />

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