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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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IX Von der vertu zum Affekt<br />

überlieferten) musikalischen Begleitungen oder Untermalungen 99 die Schauspiele-<br />

rin selbst in den Mittelpunkt des Interesses eines ebenso aristokratischen wie bür-<br />

gerlichen Publikums treten ließ. Damit wurde am Ende des 18. Jahrhunderts ein<br />

ständeübergreifendes Publikum erreicht, im Unterschied zur Kantate, die eher für<br />

den privaten Gebrauch intimer und elitärer Zirkel bestimmt war. <strong>Die</strong>s gilt auch für<br />

die etwa gleichzeitig in Mode kommenden Attitüden, die durch noch weitergehende<br />

Reduktionen auf die Gestik <strong>als</strong> aristokratische Variante des Monodramas aufge-<br />

fasst werden können.<br />

5 Attitüden: Das Motiv des ›schönen Sterbens‹ in den neuen Ausdruckskünsten<br />

Verwundert und konsterniert berichtet Marianne Krauss, die Kammerfrau der Male-<br />

rin Angelika Kauffmann, von einer Frühstückseinladung der Gräfin<br />

Solms in Neapel, bei der Lady Hamilton [Abb. 1] einige ihrer be-<br />

kannten Attitüden aufführte. Neben ihrer Herrin hatten sich auch der<br />

Maler Friedrich Rehberg (1758-1835) und der Antiquar Johann<br />

Friedrich Reifenstein (1719-1793) eingefunden.<br />

Abb. 1<br />

[...] ich schämte mich meiner starken Nerven, wie ich so Alles, Damens und Herren,<br />

weinen sah. wenns ichs so vorgesehen hätte, ich würde mir S<strong>als</strong> mitgenommen<br />

haben. da sizte <strong>als</strong>o die holzige Kraus neben einer Angelika, die so laut schlukte,<br />

das sich steine hätten bewegen können. Der arme Reheberg sah aus wie ein Knabe<br />

der düchtige schläge vom H. Schulmeister bekömt, H. Reifenstein weinde doch<br />

noch ziehrlich, man konnte die langsam herabrollenden andikischen Tränen zehlen.<br />

Miss Schinkens stand das weinen nicht sehr übel, es war der todten blassen gesichtsfarben<br />

sehr angemessen. Gräfin Solms weinde sich fast die Nase wider in<br />

jhre alte formen. der hofmeister von den prinzen Schwarzenberg weinde auch bitterlich.<br />

100<br />

<strong>Die</strong> neue Kunstform der Attitüden, die zur Verblüffung der Kammerzofe in der<br />

Frühstücksgesellschaft von Erschütterung und Tränen begleitete sentimentale Af-<br />

fektausbrüche auslöste, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts zur modischen Un-<br />

terhaltung der europäischen Oberschichten. Wie Kammerkantate und Monodrama<br />

verlangte die neue theatralische Form, einer Performance vergleichbar, Konzentra-<br />

tion und Beschränkung auf einen emotionsgeladenen tragischen Moment, wozu<br />

sich Entscheidungs- und Abschiedssituationen anboten. <strong>Die</strong> frühneuzeitliche In-<br />

vention des ›schönen Sterbens‹ eignete sich auch für diese neue μετάβασις εἰς<br />

99 Zur musikalischen Begleitung von Monodramen vgl. Jiránek, Jaroslav: »Zur Geschichte des Melodramas«,<br />

in: http://publib.upol.cz/~obd/fulltext/Musicologica%206/musicol6-8.pdf (letzter Aufruf: 16.08.2006)<br />

100 Krauss, Marianne: Sammlung von Allerlei für mich gemerkt auf meiner Reise nach Italien zu Anfang des<br />

Jahres 1791, hrsg. von Fritz Muthmann, in: Neue Heidelberger Jahrbücher, 1931, S. 95-177, hier S. 138.<br />

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