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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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X Exempla virtutis<br />

So können exempla virtutis in der Frühen Neuzeit, unabhängig davon, ob sie rheto-<br />

risch, literarisch oder künstlerisch eingesetzt wurden, <strong>als</strong> Erinnerungsfigur aufge-<br />

fasst werden, deren akkumulierter »kultureller Sinn« 29 stets reaktiviert, an neue<br />

Gegebenheiten angepasst und semiotisiert werden kann. Solche Erinnerungsfigu-<br />

ren können allerdings nicht in jeder Phase eingesetzt werden, sondern bleiben zu-<br />

weilen ›in Reserve‹, um später neu belebt zu werden, wenn sich neue Aktualisie-<br />

rungsmöglichkeiten ergeben. 30 In den exempla virtutis manifestiert sich ein literari-<br />

sches und künstlerisches Verfahren, dessen Herkunft aus der Rhetorik unverkenn-<br />

bar ist und das seinen Wert <strong>als</strong> abgekürzte Erinnerung an vergangene und gegen-<br />

wärtige Normkonzepte lange Zeit beibehielt. 31<br />

Auch <strong>als</strong> in der historischen Reflexion der Aufklärung Geschichte <strong>als</strong> ›Fort-<br />

schrittsgeschichte‹ verstanden wurde und den handelnden Subjekten eine neue<br />

Rolle zugewiesen wurde, verloren die exempla virtutis überraschenderweise nicht<br />

sofort ihren rhetorischen, literarischen und künstlerischen Wert. Helden der römi-<br />

schen Republik wie Brutus und Cato fanden im Historienbild des ausgehenden 18.<br />

Jahrhunderts häufig Berücksichtigung und wurden in der Umbruchphase der fran-<br />

zösischen Revolution geradezu Leitmotive künstlerischer und rhetorischer Propa-<br />

ganda. Für den noch nie erlebten und gar nicht zu übersehenden gesellschaftli-<br />

chen Wandel konnte das unerschöpfliche Reservoir der antiken exempla virtutis<br />

noch einmal aktiviert und umbesetzt werden, weil diese Erinnerungsfiguren einge-<br />

übt und der mémoire collective vertraut waren. Freilich bewährte sich auch hier die<br />

immanente Dialektik der Erinnerungsfigur: Das Neue wurde mit Vertrautem inter-<br />

pretiert oder vielmehr den vertrauten exempla neuer Sinn unterlegt, im alten Ge-<br />

wand vertrauter Leitfiguren neue Normen entwickelt. Insofern macht Robert Ro-<br />

senblum 32 zu Recht darauf aufmerksam, dass das exemplum virtutis ein wichtiger<br />

Aspekt für das Verständnis vor allem des französischen Klassizismus ist. Aller-<br />

dings übersieht er im Einzelnen die Umbesetzung überlieferter Tugenden, die Um-<br />

bewertung der Handlungsmuster, kurzum die Aktualisierung alter Normen und<br />

Ideale.<br />

29 Ich verwende die Terminologie von Renate Lachmann aus dem Vorwort zu: Haverkamp, Anselm / Lachmann,<br />

Renate (Hrsg.): Memoria, München 1993 (Poetik und Hermeneutik 15), v. a. S. XVII-XXV.<br />

30 Vgl. Renate Lachmann, a.a.O., S. XVIII.<br />

31 Schon E. R. Curtius (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 8 1973, S. 112) beschrieb<br />

das Funktionieren eines Topos ganz ähnlich und verwies unter Bezugnahme auf C. G. Jung auf die<br />

Tiefenstruktur solch repetitiver Verfahren, mit deren Hilfe das kulturelle Gedächtnis immer neu umgestaltet<br />

werden kann.<br />

32 Rosenblum, Robert: Transformations in Late Eighteenth Century, Princeton 3 1974.<br />

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