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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

Wenn Lipsius seine Überlegungen mit einer scheinbaren Distanzierung von<br />

der stoischen Position zum Selbstmord abschließt und die christliche Position der<br />

Unverfügbarkeit des Lebens zitiert, geht es ihm wohl mehr darum, den provokati-<br />

ven Gedankengang für das konfessionelle Umfeld abzuschwächen und zu relati-<br />

vieren:<br />

Mortem arbitrii nostri non esse: nec Stoicis me, hac parte, suffragium dare. 72<br />

<strong>Die</strong> Einschränkung, demonstrativ ans Ende des Kapitels und für den kritischen<br />

Blick des Zensors signifikant hervorgehoben, kann allenfalls <strong>als</strong> oberflächliche und<br />

formale Konzession an kirchliche Positionen gewertet werden. Allzu ausführlich<br />

wird die stoische Haltung zum Selbstmord in Form aneinander gereihter Paradoxa<br />

und unter Zitierung vieler Beispiele aus der Antike dargelegt und dem Leser der<br />

Freitod <strong>als</strong> exemplarische, ein selbstbestimmtes Leben krönende Entscheidung vor<br />

Augen geführt, <strong>als</strong> dass die Behauptung Glauben finden könnte, die Theologen<br />

selbst verträten unterschiedliche Auffassungen:<br />

Quid autem nostri hic theologi? Firmiter nescio et audio in scholis dissentire. 73<br />

Der theologischen Korrektheit wird Genüge getan, gleichzeitig die stoische Lehr-<br />

meinung in aller Ausführlichkeit dargestellt. <strong>Die</strong>ses Verfahren ermöglichte es Lip-<br />

sius, den Freitod in seinem Handbuch stoischen Philosophierens zu enttabuisie-<br />

ren, mit unübersehbaren Folgen für die Ästhetik des frühneuzeitlichen Dramas und<br />

für die Ikonographie des Historienbildes.<br />

[Christliche und profane Tugendhelden] Unter dem Gesichtspunkt der moralischen<br />

Selbstbehauptung (constantia) wurde an der Schwelle zur Neuzeit der frei gewähl-<br />

te oder akzeptierte Tod der Tugendhelden mit dem Bekenntnistod der Märtyrer<br />

vergleichbar. So gelten Lipsius antik-profane und christlich-moderne Exempla ›tu-<br />

gendhaften Verhaltens‹ <strong>als</strong> völlig gleichwertig; er zitiert zur Illustration der constan-<br />

tia die üblichen antiken Modelle, greift in der ›christlichen Moderne‹ aber ganz<br />

selbstverständlich auf christliche Herrscher und auf Märtyrerlegenden zurück. Dem<br />

neustoischen Philosophen gilt Affektkontrolle und mutiges Sterben, seien sie sto-<br />

isch oder christlich motiviert, in gleicher oder doch vergleichbarer Weise <strong>als</strong> vor-<br />

72 : ›Der Tod steht nicht in unserem Ermessen: in diesem Teilbereich kann ich den Stoikern meine Zustimmung<br />

nicht geben.‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam III,23 in: Opera omnia, a.a.O., Bd.4,2, S.814-818)<br />

73 ›Was aber sagen hierzu unsere Theologen? Zuverlässiges kenne ich nicht und höre, dass sie unterschiedliche<br />

Auffassungen vertreten.‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam III,23 in: Opera omnia, a.a.O., Bd.4,2,<br />

S.814-818)<br />

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