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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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VI Der Neustoizismus: Leitphilosophie der Frühen Neuzeit<br />

werden sollten. <strong>Die</strong> praktische Philosophie entwickelte ein geradezu pädagogisches<br />

Programm zur Einübung ihrer Normen (virtus), das der Selbstkontrolle (disciplina)<br />

und der ständigen Ausbildung (exercitatio) in gleicher Weise Rechnung trug. 107 <strong>Die</strong><br />

Begriffe, die Lipsius für solche adiumenta vel instrumenta philosophischer Lebensführung<br />

wählte, lassen die Nähe seiner Überlegungen zu Formen religiöser Lebensführung<br />

noch deutlich erkennen: exempla, conversatio, examen. 108<br />

Vergleichbar der kirchlichen Frömmigkeitspraxis wurde die philosophische Lebensführung<br />

zu einer Technik, die sich nicht auf theoretische Kenntnisse (doctrina) verließ,<br />

sondern wie die nachtridentinische Kunsttheorie auf die emotionale Aneignung<br />

vorbildlicher Handlungen (e x e m p l a ) setzte: »aliena facta [...] movent et iuvant«.<br />

109 Antike und moderne Vorbilder galten dabei <strong>als</strong> gleichwertig. 110 Höher im<br />

pädagogischen Wert noch <strong>als</strong> das exemplum ist die c o n v e r s a t i o einzuschätzen:<br />

Sed conversatio iuvabit maxime: de qua Seneca […] Nulla res magis animis<br />

honesta induit, dubiosque et in pravum inclinantes revocat ad rectum, quam<br />

bonorum virorum conversatio. 111<br />

Der von Lipsius verwendete Begriff conversatio umfasst den persönlichen Umgang<br />

im Gespräch ebenso wie die Lektüre eines vorbildlichen Autors und die ständige<br />

Auseinandersetzung mit seinem Beispiel:<br />

Occursus mehercule ipse sapientium iuvat: et est aliquid, quod ex magno viro<br />

vel tacente proficias? Quid? Imo iuvabit illeipse vel cogitatus. Nam et Senecae<br />

hoc admonitum admitte: […] Aliquis vir bonus eligendus est, ac sem-<br />

107 »Quid iuvat ista omnis dissertio, et indagatio, si ea tantum? Non enim qui sermone sapit, is mihi sapit (ait vir<br />

sanctus) nec qui linguam disertam et volubilem habet, mentem autem inconstantem et indoctam: sed magis,<br />

qui pauca de virtute disserit, multa autem factis ostendit, et fidem verbis suis ipsa vita conciliat. Sed et cum<br />

Seneca monemus (Epist. XCIIII). Pars virtutis disciplina constat, pars exercitatione. Et discas oportet; et quod<br />

didicisti agendo confirmes.« (›Was nützt alles Diskutieren und Debattieren, wenn es dabei bleibt? Wie ein<br />

verehrungswürdiger Mann sagt, ist nämlich nicht der Philosoph, der mit Worten klug umzugehen weiß, und<br />

auch nicht der, der sich gewandt und geläufig ausdrücken kann, aber selbst unbeständig und ungebildet ist,<br />

sondern vielmehr der, der nur wenig Worte über die Tugend verliert, aber vieles durch sein Handeln erkennen<br />

lässt und durch die Lebensführung seinen Worten Glauben verschafft. Mit Seneca muss darauf hingewiesen<br />

werden, dass [philosophische] Tugend Unterweisung ebenso wie Einübung verlangt. Du musst lernen und das<br />

Gelernte im Handeln bestätigen.‹) (Manuductio ad stoicam philosophiam III,24 in: Opera omnia, a.a.O., Bd.4,2,<br />

S. 819)<br />

108 »Quod si aliena facta sic movent et iuvant, quid tua? Tria autem ad exercitium utiliter instituendum conducent,<br />

exempla, conversatio, examen.« (›Wenn [tugendhaftes] Handeln anderer zum mitreißenden Vorbild werden<br />

kann, wie steht es dann um dich? Drei Verfahren gibt es, [eine philosophische Lebensweise] erfolgreich<br />

einzuüben: Vorbilder, Umgang mit den Vorbildern und kritische Selbstprüfung.‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam<br />

III,24 in: Opera omnia, a.a.O., Bd.4,2, S. 818-821) – Der Begriff der c o n v e r s a t i o ist bewusst<br />

doppeldeutig, den philosophischen Gedankenaustausch ebenso umfassend wie den Umgang mit Exempeln.<br />

Lipsius lehnt sich wohl an ein Verfahren des Lateinunterrichts in der Frühen Neuzeit an, der in den Schritten<br />

praeceptum – exemplum – imitatio vorging; zunächst (praeceptum) wurde die grammatische Regel erlernt und<br />

eingeprägt; dann (exemplum) wurden Musterbeispiele aus antiken Autoren übersetzt; schließlich (imitatio)<br />

musste der Schüler das Gelernte in engem Anschluss an das sprachliche Vorbild umsetzen und einen eigenen<br />

Text schreiben (Fink, Hanns-Peter: Exercitia Latina, Vom Unterricht lippischer Junggrafen zur Zeit der Spätrenaissance,<br />

Marburg 1991, S. 25ff., außerdem Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2 Bde,<br />

Leipzig 3 1919-1921, hier Bd.1, S. 345).<br />

109 S. Fußnote 108.<br />

110 »Exempla, et a veteribus licet sumere, quos iure miramur: atque etiam e notis aut novis non deerunt, quos<br />

in tali aut tali re imitere. Opus est iis, ad quos mores nostri seipsi exigant: nisi ad regulam, prava non corriges.«<br />

(Manuductio ad stoicam philosophiam III,24 in: Opera omnia, a.a.O., Bd. 4,2, S. 819) (›Beispiele finden sich<br />

bei den zu Recht bewunderten Alten, unter den bekannten oder neuen finden sich Vorbilder in der einen oder<br />

anderen Hinsicht. Vorbilder sind nötig, an denen sich unsre Lebensführung schulen kann; Fehler lassen sich<br />

nur an Leitbildern korrigieren.‹)<br />

111 ›Am meisten indes wird der Umgang nützen, über den Seneca im 94. Brief schreibt: Nichts bringt den Menschen<br />

das moralisch Wertvolle näher und ruft Menschen, die im Zweifel sind und zum Schlechten neigen, zum<br />

Richtigen zurück <strong>als</strong> der Umgang mit Vorbildern.‹ (Manuductio ad stoicam philosophiam III,24 in: Opera omnia,<br />

a.a.O., Bd. 4,2, S. 819)<br />

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