21.06.2013 Aufrufe

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

IV Liebe, Patriotismus und Selbstbestimmung: Sophonisbe <strong>als</strong> <strong>Tugendheldin</strong><br />

schen Handlung vor Augen führt. Anders <strong>als</strong> in der klassizistischen Theaterdramaturgie,<br />

die in vergleichbarer Weise das punctum temporis (oder den prégnant moment)<br />

suchte, aber immerhin eine geraffte H a n d l u n g s f o l g e dargestellen konnte,<br />

bleibt das »monoszenische Einzelbild« 169 auf einen H a n d l u n g s a u s s c h n i t t<br />

angewiesen, der Vergangenheit und Zukunft noch enger zusammenbindet. <strong>Die</strong><br />

Szene der Übergabe des Gifts an Sophonisbe verknüpft für den Betrachter emphatisch<br />

Vorgeschichte und bevorstehenden Selbstmord. 170 Vouet und Rembrandt stellen<br />

den Augenblick des Übergangs dar, <strong>als</strong> die Königin bereits ihren Entschluss gefasst<br />

hat und die tragische Endgültigkeit der Situation feststeht, auf die Sophonisbe<br />

gelassen reagiert; die Erschütterung der <strong>Die</strong>nerin signalisiert die Übermittlung der<br />

Botschaft und nimmt das bevorstehende Ende der Königin vorweg. Wie in einer<br />

Tragödie sollen die in Szene gesetzten Affekte der Nebenfiguren oder des Hofstaates<br />

beim Betrachter ἔλεος καὶ φόβος (Mitleid und Furcht) und die entsprechende<br />

kathartische Wirkung (expiatio affectuum) auslösen. Im Identifikationsangebot der<br />

gelassen auf Schicks<strong>als</strong>schläge reagierenden Hauptfigur und ihrer impassibilité findet<br />

hingegen die neustoisch verstandene Vernunft und Affektsteuerung exemplarischen<br />

Ausdruck. 171<br />

Der Rembrandt-Schüler Gerbrand van den E e c k h o u t (1621-1674) 172 stellt bei<br />

einem völlig anders angelegten Bildaufbau [Abb. 25] Sophonisbe ruhig und gelas-<br />

sen dar und legt den Akzent auf den Gegensatz von Staatsräson und persönli-<br />

chem Glück. Im linken Bildraum nimmt die Königin unter einer Throndraperie, mit<br />

Krone und Hermelinmantel bekleidet, den Giftkelch entgegen; der ihn begleitende<br />

folgenden Handlungsphasen verweist: »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr <strong>als</strong><br />

einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen<br />

Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden,<br />

lange und wiederholter maßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und<br />

einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige<br />

aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen<br />

wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.« (Lessing,<br />

Gotthold Ephraim: Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert u.a., Bd. 6 (Kunsttheoretische und kunsthistorische<br />

Schriften), Darmstadt 1996, S. 25f.). Zu vergleichbaren Überlegungen bei Diderot: Bernier, Marc André: »La<br />

lettre sur les sourdes et muets (1751) de Denis Diderot: une rhétorique du punctum temporis«, in: Lumen, Bd.<br />

18, 2000, S. 1-10.<br />

169 »Beide [Historienbild und Tragödie] müssen die Krise zentral stellen, alles Vorangehende nur andeuten,<br />

möglichst nahe an die Krise herankommen. Mit Recht kann aber die Frage gestellt werden, ob in diesen Fällen<br />

noch immer eine vom Betrachter perzipierbare narratio dargestellt wird. Während die anderen drei Arten der<br />

visuellen narratio eine temporale Folge von Handlungen zeigen, die der Betrachter ziemlich leicht zu einer<br />

Geschichte zusammenfügen kann, kann er im Falle eines monoszenischen Einzelbildes nur eine Handlung<br />

wahrnehmen, jedoch keine Geschichte. <strong>Die</strong>se entsteht erst, wenn er die Handlung <strong>als</strong> Teil eines größeren<br />

narrativen Zusammenhanges erkannt hat, zum Beispiel nachdem er den Titel des Bildes gelesen hat. Seit dem<br />

18. Jahrhundert wird des öfteren auf diese Schwierigkeit der Historienmalerei hingewiesen: der Künstler wählt<br />

entweder immer wieder dieselben allgemein bekannten historischen Ereignisse, mit dem Risiko der Banalität<br />

und der Langeweile, oder aber er wählt weniger bekannte Geschichten, mit dem Risiko, daß die Betrachter<br />

diese nicht erkennen und demzufolge auch ihre menschlich-moralische Bedeutung nicht verstehen können.«<br />

(Varga, Aron Kibédi: »Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität«, in Harms, Wolfgang [Hrsg.]: Text und<br />

Bild, Bild und Text [DFG-Symposion 1988], Stuttgart 1990, S. 356-367, hier S. 363-364)<br />

170 Eine vergleichbare Funktion hat die durch einen Brief visualisierte Übermittlung der Nachricht, wie sie zum<br />

Beispiel bei Koninck auftritt. Vgl. zum Motiv Schulze, Sabine (Hrsg.): AK Leselust, Niederländische Malerei von<br />

Rembrandt bis Vermeer, Frankfurt 1993.<br />

171 Vgl. Brassat, Wolfgang: »Tragik, versteckte Kompositionskunst und Katharsis im Werk von Peter Paul Rubens«,<br />

in Heinen, Ulrich / Thielemann, Andreas (Hrsg.): Rubens Passioni, Kultur der Leidenschaften im Barock,<br />

Göttingen 2001, S. 41-69.<br />

172 Vgl. Katalog 417.<br />

93

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!