21.06.2013 Aufrufe

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

X Exempla virtutis<br />

Ebenso ambivalent und komplex wie der Begriff des Exempels ist der T u-<br />

gend b e g r i f f (und komplementär der Lasterbegriff). Durch exempla normativ<br />

vermittelte Handlungsmuster und Standardverhaltensformen sind gesellschafts-<br />

und gruppen- oder standesspezifische Leitbilder, die scheinbar unverändert Konti-<br />

nuität der gültigen Werte unterstellen. Dabei ist der Begriff der ›Tugend‹ in der<br />

Frühen Neuzeit noch nicht auf individuell-moralisches Verhalten reduziert, sondern<br />

gilt <strong>als</strong> komprimierte soziale Norm, die einen Anspruch transportiert, der in der Pra-<br />

xis nicht immer eingelöst werden kann – moralphilosophisch gesprochen ein »sittli-<br />

ches Seinsollen« 18 : ›Tugenden‹ spiegeln in vormodernen Gesellschaften die Leit-<br />

semantiken kulturell führender Gruppen.<br />

Obwohl sich seit der Frühen Neuzeit Veränderungen immer mehr beschleu-<br />

nigten, entstand paradoxerweise zunächst ein größerer Bedarf an exempla virtutis,<br />

vielleicht eine der Voraussetzungen für den Erfolg der Bildgattung des Historien-<br />

gemäldes. <strong>Die</strong>s schließt jedoch nicht aus, dass ständige U m b e s e t z u n g e n 19 der<br />

gruppen- und gesellschaftsspezifischen Semantiken der für Historiker interessan-<br />

teste Aspekt sind. Entsprechend ist die ständige Neudeutung des zur Verfügung<br />

stehenden ikonographischen Materi<strong>als</strong> entscheidende kunsthistorische Ge-<br />

sichtspunkt, der erst eine differenzierte Betrachtung des einzelnen exemplum er-<br />

laubt. Traditionelle ›Tugenden‹ wie Tapferkeit (fortitudo) verlieren allmählich ihre<br />

gruppen- und geschlechterspezifische Bindung – eine der Voraussetzungen der<br />

neuzeitlichen Umbesetzung des alttestamentlichen Begriffs mulier fortis –, andere<br />

werden individualisiert. Im allmählich entstehenden Konflikt zwischen öffentlichen<br />

und privaten Normen werden im Historiengemälde traditionelle exempla virtutis<br />

neu interpretiert; dies gilt für den gesamten Bereich der Affektdarstellung. 20<br />

Exemplarische Tugenden sind nicht mehr statisch, sondern werden in wechseln-<br />

den Kontexten verändert und uminterpretiert. Dabei geht die gesellschaftliche Se-<br />

mantik manchmal dem Wandel der Trägergruppe voraus, vollzieht jedoch meist<br />

einen bereits vollzogenen Wandel nach. Vergleichbares gilt für die literarische oder<br />

künstlerische Neuinterpretation der Exempel. Tugendkonzepte haben stets zwei<br />

18<br />

Fellsches, Josef: »Tugend/Laster« in Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg.<br />

von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1990, Bd. 4, S. 620.<br />

19<br />

Ich benütze hier die Terminologie des Philosophen Hans Blumenberg (z. B.: <strong>Die</strong> Legitimität der Neuzeit,<br />

Frankfurt am Main 3 1997).<br />

20<br />

Fumaroli, Marc: L'âge de l'éloquence: rhétorique et ›res literaria‹ de la Renaissance au seuil de l'époque<br />

classique, Paris 3 2002.<br />

307

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!