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Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

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X Exempla virtutis<br />

vor: Bei Livius wurde die großzügige Geste noch unverhohlen <strong>als</strong> politische Er-<br />

pressung dargestellt, mit der der keltiberische Verlobte der jungen Frau politisch<br />

auf die Seite Roms gezwungen wurde. Schon Valerius Maximus hatte die Szene in<br />

die Rubrik De abstinentia et continentia (4,3) seiner Sammlung eingeordnet und<br />

sie nicht mehr politisch, sondern moralisch pointiert: Für ihn handelt es sich um<br />

eine freiwillige Geste des Eroberers, mit der angesichts seiner Jugend nicht zu<br />

rechnen war. Das politische Kalkül wird zum erstaunlichen, aber durchaus indivi-<br />

duellen exemplum virtutis. 28 Dem Betrachter des Historienbildes Pittonis hingegen<br />

galt Scipio <strong>als</strong> exemplum für die Handlungsnorm der continentia, die dem absolu-<br />

tistischen Fürsten <strong>als</strong> Verzicht auf egoistische Interessen abzuverlangen war; er<br />

wusste die Szene im synchronen höfischen Kontext anzuwenden und einzuordnen.<br />

Der überraschende Transfer, die teilweise Umbesetzung der Inhalte des<br />

exemplum, gelang, weil es für den zeitgenössischen Betrachter des Historienge-<br />

mäldes ganz selbstverständlich war, erinnerte Geschichte <strong>als</strong> relevant für das ei-<br />

gene kulturelle Gedächtnis vorauszusetzen. Künstler und Betrachter repetierten im<br />

Barock nicht einfach einen selbstexplikativen topischen Bildvorwurf, sondern inter-<br />

pretierten ihn neu, besetzten ihn um und entwickelten eine neue Applikation<br />

scheinbar unveränderlicher Verhaltensnormen. Der neue soziopolitische Bezugs-<br />

rahmen erlaubte zwar das Aufgreifen des Musters, besetzte es aber mit den Er-<br />

wartungen und Zielen des frühneuzeitlichen Absolutismus.<br />

28 Valerius Maximus spitzt die Episode aus dem Zweiten Punischen Krieg (218-201) in seinen Facta et dicta<br />

memorabilia (4,3,1) auf die continentia und die munificentia des Scipio zu: »Quartum et uicesimum annum<br />

agens Scipio, cum in Hispania […] multos […] obsides, quos in ea urbe Poeni clausos habuerant, in suam<br />

potestatem redegisset, eximiae inter eos formae uirginem aetatis adultae, et iuuenis et caelebs et uictor,<br />

postquam comperit inlustri loco inter Celtiberos natam, nobilissimoque gentis eius Indibili desponsam,<br />

arcessitis parentibus et sponso inuiolatam tradidit. Aurum quoque, quod pro redemptione puellae adlatum erat,<br />

summae dotis adiecit. Qua continentia ac munificentia Indibilis obligatus Celtiberorum animos Romanis<br />

adplicando meritis eius debitam gratiam rettulit.« (›Als der 24-jährige Scipio in Spanien […] viele Geiseln, die<br />

die Punier in Cartagena gefangen gehalten hielten, in seine Gewalt gebracht hatte, war unter ihnen auch eine<br />

junge Frau von herausragender Schönheit. Nachdem der junge und unverheiratete Sieger Scipio erfahren<br />

hatte, dass sie zu den Keltiberern von bedeutender Abstammung gehörte und mit Indibilis, einem adligen<br />

jungen Mann dieses Volkes, verlobt war, gab er sie den herbeigerufenen Eltern und dem Verlobten unberührt<br />

zurück. Auch das ihm für die Rückerstattung der jungen Frau gebrachte Gold fügte er der Mitgift hinzu. Durch<br />

diese Zurückhaltung und Großzügigkeit verpflichtet, verbündete Indibilis die Keltiberer mit den Römern und<br />

stattete so den geschuldeten Dank für die Wohltat ab.‹) Demgegenüber hatte Livius (Ab urbe condita 26,8,50)<br />

noch unverhohlen auf die politische und strategische Bedeutung seiner continentia hingewiesen und mit der<br />

Geste nach der Eroberung von Carthago Nova (im Jahre 209) eine politische Erpressung des hochgestellten<br />

keltiberischen Verlobten verbunden: »Hanc mercedem unam pro eo munere paciscor: amicus populo Romano<br />

sis et, si me virum bonum credis esse quales patrem patruumque meum iam ante hae gentes norant, scias<br />

multos nostri similes in civitate Romana esse, nec ullum in terris hodie populum dici posse quem minus tibi<br />

hostem tuisque esse velis aut amicum malis.« (›Nur eine einzige Gegenleistung will ich mit diesem Geschenk<br />

verbinden: Du sollst ein Bündnis mit dem römischen Volk schließen! Wenn du mich wie meinen Vater und<br />

meinen Onkel für einen verlässlichen Mann hältst, sollst du wissen, dass es im römischen Staat viele gibt, die<br />

uns gleichen. Auch sollte es heute kein Volk geben, das du weniger zum Feind für dich und die Deinen,<br />

sondern vielmehr zum Freund haben möchtest.‹)<br />

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