21.06.2013 Aufrufe

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

Die Selbstmörderin als Tugendheldin - eDiss - Georg-August ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

X Exempla virtutis<br />

Der Rekurs auf exempla virtutis in Rhetorik, Literatur und Kunst setzt nicht nur Ci-<br />

ceros Diktum vom moralischen Nutzen der Historie (»historia magistra vitae«) vor-<br />

aus, das bis zum Historismus Gültigkeit behielt. 15 Er geht auch von der relativen<br />

Konstanz anthropologischer Entscheidungssituationen und Handlungsmöglichkei-<br />

ten aus und leitet aus vergangenen Ereignissen Normen und Regeln für künftige<br />

ab. Vergangenes Verhalten in einer Konfliktsituation wird im exemplum zur griffi-<br />

gen Moral oder Handlungsanweisung verdichtet und steht damit dem kulturellen<br />

Gedächtnis für nicht voraussehbare Kontexte und A p p l i k a t i o n e n zur Verfü-<br />

gung. Historische oder pseudohistorische Figuren und Handlungsmuster werden<br />

herausgehoben und zu Modellen gestaltet, deren Prägnanz im kollektiven Gedäch-<br />

tnis eines Kulturraumes eine wichtige Rolle übernimmt. Herausgehobene Perso-<br />

nen und Verhaltensweisen in Konfliktsituationen 16 werden für die kollektive Erinne-<br />

rung semiotisch besetzt, stehen <strong>als</strong> exempla rhetorisch, literarisch und künstlerisch<br />

der interpretierenden Repetition zur Verfügung und tragen zur Identität und zum<br />

kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft, einer Gruppe oder eines Standes bei,<br />

die sich immer in der Auseinandersetzung mit der historischen oder mythischen<br />

Vergangenheit konstituieren. 17 Exempel sind deshalb immer kulturraum- und grup-<br />

penspezifisch: <strong>Die</strong> exempla virtutis der Frühen Neuzeit reflektieren eine zeitlich<br />

und räumlich begrenzte kulturelle Semiotik und sind auch <strong>als</strong> solche untersu-<br />

chenswert. Gleichwohl dispensiert dies nicht von der Frage nach der konkreten<br />

Funktion eines Textes oder eines Kunstwerks. Was im kulturellen Gedächtnis einer<br />

Epoche <strong>als</strong> exemplarisch gilt und damit kollektive Normen, Werte und Deutungen<br />

speichert, unterliegt ständigem Applikations- und Veränderungsdruck; jede literari-<br />

sche oder künstlerische Konkretisierung verändert, jedenfalls potentiell, das Mu-<br />

ster.<br />

et multiplex lectio Exempla varia et multa suppeditat: vt eligere sit, et ad rem talem aut talem appositum aliquid<br />

semper applicare.« (›Hast du gesehen, wie Leute sich vor dem Spiegel Antlitz und Aussehen zurechtmachen?<br />

Noch mehr kann ein anderer Lebenslauf und können Handlungsweisen anderer <strong>als</strong> Spiegel dienen und <strong>als</strong><br />

Bild, in dem du dich selbst erblickst und nach dem du dich richten kannst. Was noch besser gelingt, wenn viele<br />

und vielseitige Lektüren zahlreiche Exempel bereitstellen, so dass dir für jeden Sachverhalt eine Anwendungsmöglichkeit<br />

zur Wahl steht.‹) Aus: Monita et Exempla Politica (1605) in: Lipsius, Justus: Opera omnia,<br />

Bd. IV,1, S. 128 (ND Hildesheim/Zürich/New York 2001; zugrundegelegt ist die Ausgabe Wesel 1675).<br />

15 Cicero, De oratore II, 9,36. Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher<br />

Zeiten, Frankfurt am Main 1979.<br />

16 In den Bildkünsten lassen sich in der Regel nur facta, nicht dicta verwenden, um in der Terminologie des<br />

Valerius Maximus zu bleiben.<br />

17 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,<br />

München 2 1997, besonders S. 77-89.<br />

306

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!